5 Jahre - Landesinitiative StadtBauKultur NRW
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„Der Strukturwandel der Öffentlichkeit” von Jürgen Habermas,<br />
geschrieben in den1960er <strong>Jahre</strong>n, und „Der Verfall der Öffentlichkeit.<br />
Die Tyrannei der Intimität” von Richard Sennett aus<br />
den 1980er <strong>Jahre</strong>n sind bis heute die Klassiker, die sich mit der<br />
Frage ausführlich befasst haben. Sennetts Kernthese besteht<br />
in der Dialektik zwischen Intimität und Geselligkeit: „Je mehr<br />
die Psyche ins Private gedrängt wird, desto weniger wird<br />
sie stimuliert…”. Die Distanz zwischen den Menschen geht<br />
verloren – sie gehen auf Tuchfühlung. „Die Menschen sind<br />
aber, umso geselliger, je mehr greifbare Barrieren zwischen<br />
ihnen liegen“. Wenn die Distanz verloren geht, entsteht der<br />
„Fetisch der Gemeinschaftlichkeit“. Eine Gemeinschaft ist<br />
„eine pervertierte Brüderlichkeit”, die auf den Ausschluss<br />
von Außenseitern und Fremden angewiesen ist. „Gemeinschaft<br />
und Gesellschaft ist ein Gegensatz”, so wie latenter<br />
Rassismus und soziale Integration, welche die urbane Tradition<br />
in Europa prägt.<br />
Habermas beklagt den Verlust der direkten öffentlichen<br />
Kommunikation, was auch den Verlust eines rationalen Diskurses<br />
und Kritik bedeute. Die elektronischen Massenmedien<br />
ermöglichen zwar, dass die Kulturgüter einem breiten Publikum<br />
zugänglich werden, sie werden aber auch zur Ware.<br />
Die leichtere Zugänglichkeit verlangt eine Entqualifizierung<br />
und Simplifizierung. Geschmacksfragen dominieren schließlich<br />
die Kultur. Habermas meint, dass die Teilnahme des<br />
Publikums nur scheinbar geschieht. In Wirklichkeit bemächtigen<br />
sich die Massenmedien der öffentlichen Sphäre. Der<br />
öffentliche Raum wird „halbiert“, indem die Bürger passiv<br />
sein müssen. Diese Medialisierung führe unter anderem zur<br />
Verwandlung gesellschaftlicher Kategorien in psychologische,<br />
zur Intimisierung von Sachen und Personen durch<br />
Starkult, zur Ablösung der öffentlichen Auseinandersetzung<br />
durch Unterhaltung. In der Öffentlichkeit wird schließlich<br />
um die „Herrschaft über die Herrschaft der nicht-öffentlichen<br />
Meinung“ gerungen. In der Konsequenz führt diese<br />
Öffentlichkeitsarbeit von oben zu einer „Refeudalisierung<br />
der Öffentlichkeit”.<br />
Abgesehen davon, dass in den letzen 20 <strong>Jahre</strong>n ein weiterer<br />
Strukturwandel der Öffentlichkeit stattgefunden hat (Globalisierung,<br />
Internet u.a.), steht weniger die Frage im Vordergrund,<br />
ob die erwähnten Kernthesen richtig oder falsch<br />
sind, sondern ob der Fokus sich nicht auf ein spezifisches<br />
Spektrum von Öffentlichkeit beschränkt.<br />
Es gehört zu einem wesentlichen Merkmal des aktuellen<br />
Strukturwandels, dass sich in den letzten Jahrzehnten Öffentlichkeiten<br />
konstituiert haben, welche die traditionellen, soziologischen<br />
und politischen Bewertungen unterlaufen –<br />
also öffentlich sind, ohne dass sie sich über Diskurse, Kritik<br />
oder Gemeinschaften definieren. So gibt es, um im Jargon<br />
der kritischen Theorie zu bleiben, eine Dialektik der Dialektik,<br />
die der Adorno-Schüler Rudolf Lüscher metaphorisch mit<br />
einer Comicfigur beschrieben hat (ursprünglich aus dem Zusammenhang<br />
mit dem Fordismus): Krümelmonster unterminieren gesellschaftliche Trends,<br />
kapitalistisches Kalkül, Manipulationen und Disziplinierungsmodelle, so dass<br />
sie keineswegs flächendeckend wirken. Das entspricht etwa dem (scheinbaren)<br />
Paradox, dass die Unterschicht das „Unterschicht-Fernsehen” nicht mehr<br />
sehen will, seit es als solches gilt.<br />
Der zweite Einwand bezieht sich auf den Kulturpessimismus, den Habermas<br />
und Sennetts Thesen durchdringen. Er äußert sich in einer unausgesprochenen<br />
Beschönigung oder gar Verherrlichung vergangener Öffentlichkeit. Sie<br />
wurde im 19. Jahrhundert und bis weit ins 20. Jahrundert vom Bourgeois<br />
und vom Bildungsbürgertum beherrscht. So besteht die Gegenthese darin,<br />
dass erst mit der post-bürgerlichen Öffentlichkeit sich Öffentlichkeit entfalten<br />
konnte, insbesondere ihre emanzipatorischen Ansprüche. Mit anderen Worten:<br />
Öffentlichkeit zerstört sich auch selbst, allein durch den Umstand, dass<br />
sie nicht mehr öffentlich ist.<br />
Wie konstituiert sich Öffentlichkeit heute?<br />
Öffentlichkeit hat sich also in ein fast unüberblickbares Universum von Teilöffentlichkeiten<br />
aufgefächert: Sie sind transitorisch, reflexiv, atomisiert,<br />
trivial oder gescheit. Sie entstehen nicht nur über Politik und Diskurs, sondern<br />
vermehrt über Freizeit, Sport, Moden und anderem. Die traditionelle bürgerliche<br />
Öffentlichkeit ist natürlich nicht verschwunden – sie hat nur ihre Leitfunktion<br />
verloren.<br />
Durch diese Enthierarchisierung ist unklar, was in der Öffentlichkeit als Oben<br />
und Unten gilt und überhaupt, was öffentlich ist und was nicht. Es gibt<br />
auch kein verbindliches Interpretationszentrum, das die Welt für alle erklärt.<br />
Auch Medienmonopole müssen sich oft selbst in Frage stellen, um noch<br />
angehört zu werden.<br />
Mit dem Bedeutungsverlust bürgerlicher Öffentlichkeit ist auch die Perspektive<br />
einer alles zentrierenden Öffentlichkeit, einer Art verbindlichen Interpretationszentrums,<br />
verschwunden. Es existieren viele verschiedene, oft parallele<br />
Öffentlichkeiten, Mikro-Öffentlichkeiten, die sich eben nicht mehr zu einem<br />
übergeordneten Diskurs zusammenfügen lassen.<br />
In diesem Zusammenhang hat auch Habermas These, dass Öffentlichkeit<br />
vom Bildschirm verschluckt wird, Beweisnot. Viele empirische Studien belegen,<br />
dass die mediale Öffentlichkeit die physisch-räumliche nicht einfach<br />
ersetzt. Sie wird auch nicht als Ersatz empfunden. Es sprechen viele Indizien<br />
dafür, dass die Medien weitgehend botschaftslos funktionieren und eben<br />
keinen Ersatz für urbane Öffentlichkeit sein können. Das ist vermutlich ein<br />
Grund, wieso die Kneipen in ganz Europa geboomt sind. Eine Forschung<br />
hat bestätigt, dass Kneipenbesucher im Vergleich zu Pantoffelhelden ein<br />
ausgesprochen kritisches Verhältnis zu den Massenmedien haben, im Besonderen<br />
zur manipulierten Meinungsbildung. So findet Habermas „halbierte<br />
Öffentlichkeit“ in der Kneipe die konkrete Gegenthese.<br />
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