17.11.2016 Aufrufe

menuhin-gerard-deutch-wahrheit-sagen-teufel-jagen-komplett

  • Keine Tags gefunden...

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Ich glaube, es begann mit einer dumpfen Vorahnung, mehr war es nicht. Nicht einmal ein vages<br />

Gefühl, geschweige denn die Gewissheit, dass alles, was man dem Durchschnittskind über große<br />

historische Ereignisse eintrichtert, Lug und Trug ist. Es war nicht mehr als ein leiser, nagender<br />

Zweifel. Mein Vater sprach nie vom Krieg, wie er überhaupt nie von negativen oder unangenehmen<br />

Dingen sprach und es möglich tunlichst vermied, die Vergangenheit zur Sprache zu bringen. Meine<br />

Mutter hingegen sprach die meiste Zeit über von der Vergangenheit. Von ihrer Vergangenheit. Doch je<br />

nach Stimmung sprach sie auch von der Überlegenheit der edwardianischen Architektur über die<br />

viktorianische, oder von ihrem unfehlbaren Gefühl für Kleidung und Zierart, oder über ihre<br />

Kriegserlebnisse. Sie vertrat die Überzeugungen ihrer Generation, darunter jene, dass Churchill ein<br />

großer Mann und Neville Chamberlain ein einfältiger Gimpel gewesen sei (das Wort „appeasement“,<br />

„Beschwichtigungspolitik“, muss seinen anrüchigen Klang unbedingt beibehalten, obwohl jeder<br />

Versuch, einen Krieg zu verhindern, doch lobenswert ist). Zwar sagte sie meinem Bruder und mir<br />

bisweilen mit Gruselstimme: „Wenn ihr in Deutschland gelebt hättet, wäret ihr vergast worden“ („ihr“,<br />

nicht „wir“!), doch war sie keinesfalls deutschfeindlich eingestellt und konnte sogar ein wenig<br />

Deutsch. Natürlich bildete Deutschland keinen Teil ihrer Vergangenheit und wurde deshalb auch nicht<br />

erwähnt, wenn sie, was sie ständig tat, über ihre Erinnerungen sprach. Ich bin nie einem Menschen<br />

begegnet, dessen Ansichten so vorbehaltlos auf althergebrachten Kriterien beruhten wie bei meiner<br />

Mutter und der jede Veränderung so resolut ablehnte wie sie. Sie duldete die Gegenwart, beurteilte sie<br />

jedoch stets vom Standpunkt ihrer eigenen Vergangenheit, so unmaßgeblich diese auch sein mochte.<br />

Bis in meine späteren Teenagerjahre beruhten meine Vorstellungen vom Zweiten Weltkrieg fast<br />

ausschließlich auf illustrierten Büchern über die Abenteuer heroischer alliierter Soldaten, die in der<br />

Schule als „Schundliteratur“ galten (unter dem Eindruck dieser Schriften war ich ein eifriger Kritzler<br />

von Schlachtschiffen und Flugzeugen).<br />

Wenn ich zuhören musste, wie meine Mutter vom „Blitz“ (d. h. den deutschen Luftangriffen auf<br />

London) erzählte, hörte ich manchmal nur mit halbem Ohr hin oder vergaß diese unermüdlich<br />

wiederholten Anekdoten sogar absichtlich, weil ich einen gewissen Widerwillen gegen sie empfand.<br />

Heute bedaure ich dies, denn auch ein subjektiv gefärbter Erlebnisbericht über das Leben im London<br />

der Kriegszeit wäre sehr informativ gewesen. Doch die Art und Weise, wie meine Mutter ihre<br />

Monologe hielt, ließ wenig Raum für Fragen, hätte sie solche doch nur als unerwünschte<br />

Unterbrechungen ihrer vorprogrammierten „Rundfunksendung“ betrachtet.<br />

Bei den seltenen Besuchen, die meine Eltern meiner deutschen Schule im Jahre 1957 abstatteten,<br />

brachte meine Mutter wiederholt das „Wirtschaftswunder“ zur Sprache, den raschen Wiederaufbau der<br />

deutschen Städte und der deutschen Industrie nach dem Krieg. Ich war damals neun Jahre alt, und<br />

dieses Phänomen war mir ebenso wenig bewusst wie die Absurdität der Tatsache, dass zwei<br />

hochentwickelte angelsächsische Nationen einander bis aufs Messer bekämpft hatten. Ungefähr<br />

fünfzehn Jahre später hörte ich einen hitzköpfigen amerikanischen Oberst am Radio folgendes<br />

zutreffende Urteil fällen: „Dass sich Briten und Deutschland auf dem Schlachtfeld gegenüberstanden,<br />

war völlig unlogisch.“ Sämtliche Deutschen, die ich kannte, waren ungemein liebenswert und fielen<br />

höchstens dadurch auf, dass sie anscheinend alle dasselbe Modell eines glänzenden dunkelblauen<br />

Anzugs besaßen – vielleicht ein Hinweis darauf, wie sehr sie sich nach einer Rückkehr zu geordneten<br />

bürgerlichen Verhältnissen sehnten. Die Schülerinnen und Schüler in Hermannsberg waren ebenfalls<br />

Paradebeispiele für Normalität: In ihrer Freizeit beschäftigten sie sich mit Spiel und Sport, vergnügten<br />

sich, hörten Musik und gaben sich allerlei Aktivitäten im Freien hin. Dass ihre und meine Vorfahren<br />

dazu angestachelt worden waren, sich gegenseitig an die Gurgel zu fahren, wurde mir gar nicht erst<br />

bewusst. Der einzige Hinweis auf den Krieg, an den ich mich erinnere, war ein Wortwechsel zwischen<br />

zwei älteren Knaben, den ich mitbekam, während ich mich nach der morgendlichen Dusche<br />

abtrocknete: Sie erzählten, was sie über das Schicksal deutscher Kriegsgefangener in Russland gehört

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!