“semitisches pantheon”. eine “männliche tyche” - MOSAIKjournal.com

182| WIEBKE FRIESE
durch den Ritus bereits soweit manipuliert worden, dass es keiner
weiteren technischen Mittel bedurfte.
Fast ebenso wichtig wie die somatische Wahrnehmung des
zentralen Kultrituals und seiner direkten Umgebung war zudem die
Erwartungshaltung des Klienten. In diesem Zusammenhang spielte
daher auch das Alter des Orakels eine bedeutende Rolle. Denn das
Bild, mit dem der Klient dem zentralen Orakelritual entgegensah,
wurde nicht nur durch die Instruierung der Priesterschaft während
des teilweise mehrwöchigen Aufenthaltes vor und nach der Begegnung
mit dem Gott ausgebildet 39, sondern auch durch die über
Generationen überlieferten Erzählungen über den Erfolg der Weissagungsstätte.
Auf diesem kulturell vorgeformten Bilderschatz
gründete nicht nur die Idee vom Aussehen der Toten bzw. des
göttlichen Wesens, sondern auch von dem Orakelerlebnis selbst.
Erst das Zusammenspiel zwischen den Angst erregenden und
zugleich undeutlichen Erzählungen über die Begegnung mit dem
Gott, dem tripartiten Ritualschema und dem diesen Erwartungen
Folge leistenden Ritualraum, führte zu der enormen psychischen
39 In der klassischen Kulturanthropologie werden diese Erfahrungen,
ebenso wie die antiken Mysterienkulte, mit der Bezeichnung
rite de passage (Übergangsriten) in Verbindung gebracht. Anfang
des 20. Jhs. durch A. van Gennep formuliert, beschreibt der
Begriff das triadische Schema bestimmter Übergangsrituale wie sie
anlässlich eines sozialen Statuswechsels wie etwa Geburt, Erwachsenwerden,
Heirat, Niederkunft und Bestattung gefeiert werden.
Da diese Riten häufig mit einem Raumwechsel einhergehen, werden
sie auch “Schwellenriten” genannt. Ziel sei es, das Individuum
aus einer genau definierten Situation in eine andere ebenso genau
definierte Situation zu überführen. Die Dreiteilung dieser Zeremonien
besteht zunächst in einer symbolischen wie räumlichen
Trennung des so genannten Initianten von der Gemeinschaft
(Trennungsriten), einer auch als liminal bezeichneten Phase der
Abgeschiedenheit (Umwandlungsriten) und einer abschließenden
Phase, die das Individuum wieder in die Gemeinschaft eingliedert
(Angliederungsriten). Gerade die zweite Umwandlungsphase wird
dabei als äußert ambivalent und gefahrvoll beschrieben. In einer
Weiterentwicklung der van Genepp`schen Thesen bezeichnete V.
Turner in der Mitte des 20. Jhs. diesen Zustand als Anti-Struktur,
da die Initianten in dieser Phase jeglicher individueller und sozialer
Merkmale beraubt sind. GENNEP (2005) 15; TURNER (2001) 93–
111.