E-Paper | Falstaff Magazin Österreich 07/2019
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TOBIAS MÜLLER<br />
ist ein österreichischer<br />
Gourmet-Journalist. Er<br />
isst und trinkt gern<br />
rund um die Welt,<br />
derzeit besonders<br />
oft in Neapel.<br />
Illustration: Gina Mueller, Fotos: Shutterstock<br />
Natural Processed Geisha, der mehr kostet<br />
als ein ganzes Mittagsmenü inklusive Grappa.<br />
Sie kommen hierher, weil sie wissen wollen,<br />
ob Luigi auch das Spiel gesehen hat und<br />
wie es den Bambini von Enzo geht, weil sie<br />
nach dem Mittagessen noch nicht wieder ins<br />
Büro wollen, müde vom Sonntagsspaziergang<br />
sind oder auf der Straße Simone<br />
getroffen haben und endlich wieder plaudern<br />
wollen. So viel Zeit muss sein.<br />
Dass kaum wer sitzt, sondern fast alle<br />
stehen, hilft da enorm, ganz so, wie auf<br />
einer Party die Stimmung stets in der Küche<br />
am besten ist und nicht auf der Couch im<br />
Wohnzimmer. Keiner muss hier ein schlechtes<br />
Gewissen haben, nichts zu tun, wir bleiben<br />
ja ohnehin nur fünf Minuten – etwas,<br />
das man sich als gelernter Italiener problemlos<br />
ein, zwei Stunden einreden kann.<br />
Dass man sich hier so wohl und willkommen<br />
fühlt, liegt auch daran, dass die italienische<br />
Caffèbar für alle da ist. Der Third-<br />
Wave-Coffee-Laden ist ein Verwandter der<br />
Weinbar und des Feinkostgeschäfts, ein Ort<br />
für Spezialisten, die Geld haben und es ausgeben<br />
wollen – in diesem Fall meist halbjunge<br />
Männer, die sich wenige Jahre zuvor<br />
beim Computerspielhändler getroffen<br />
haben. Das italienische Caffè hingegen ist<br />
der Bruder des Würstelstands: Wirklich<br />
jeder kann es sich leisten, hier einzukehren –<br />
und wirklich jeder kehrt hier auch ein. Bankiers<br />
und Handwerker, alte Frauen, junge<br />
Männer, Einzelgänger, Pärchen und Familien<br />
– alle mischen sich hier, was dem Caffè<br />
im besten Fall ein wenig von der Atmosphäre<br />
eines geglückten Volksfests verleiht.<br />
In Wien und Paris mag das Café bourgeois<br />
und neuerdings sogar bobo sein – in<br />
DAS ITALIENISCHE<br />
CAFFÈ IST DER<br />
BRUDER DES<br />
WÜRSTELSTANDS:<br />
JEDER KANN ES<br />
SICH LEISTEN, HIER<br />
EINZUKEHREN.<br />
lich auch schlechte, aber nicht viele) ist nämlich<br />
dem Sushimeister in Japan verwandt:<br />
Beide verbringen Jahre, mitunter Jahrzehnte<br />
damit, ein paar Handgriffe zu perfektionieren.<br />
Kaffeemachen ist hier kein Studentenjob,<br />
sondern eine Lebensaufgabe, der kompromisslos<br />
nachgegangen wird. Lieber würde<br />
der Barista das Essen seiner Mutter<br />
beschimpfen als eine schmutzige Kaffeemaschine<br />
bedienen.<br />
Trotzdem, und das ist vielleicht das Allerbeste<br />
an der italienischen Espressobar, ist sie<br />
nie abgehoben, sondern ein herrlich normaler<br />
Ort. Third-Wave-Läden erzählen vom<br />
Besten, das gerade gut genug ist. Sie servieren<br />
Espresso in speziell geformten Tassen<br />
aus ganz speziellen Röstungen von Bohnen,<br />
von denen es weltweit nur zehn Kilo gibt.<br />
Starbucks, das Kaffeehaus für alle, die Angst<br />
haben, nichts Besonderes zu sein, quält<br />
Kunden mit ähnlich vielen Kombinationsmöglichkeiten<br />
wie die Euromillionen-Lotterie.<br />
Einen Medium Chai Matcha Latte mit<br />
Sojamilch, bitte!<br />
Die italienische Espressobar macht da nicht<br />
mit. Sie sieht nicht besonders aus, und es gibt<br />
mehr oder weniger den gleichen Kaffee wie<br />
bei der nächsten Bar ums Eck. Espresso, er<br />
heißt hier schlicht Caffè, ist schwarz, heiß,<br />
bitter und cremig, nichts Besonderes und<br />
trotzdem richtig gut.<br />
Die italienische Espressobar beharrt hartnäckig<br />
darauf, dass nicht nur das Einzigartige,<br />
Spezielle, Teure schön und gut ist. Schön<br />
und gut, sagt sie, kann und muss auch das<br />
völlig Normale, das ganz Alltägliche sein.<br />
Das macht mit jedem Schluck Mut und<br />
Italien ist es ein klassenloser Ort geblieben.<br />
An der Bar drängen sich so viele verschiedene<br />
Menschen, dass einfach kein Platz bleibt<br />
für Neid und Standesdünkel. Vor dem Barista<br />
sind alle gleich. Ein Euro für einen<br />
Espresso (im Süden ist es noch weniger!),<br />
das ist schließlich kein Preis, sondern eine<br />
Lebenseinstellung: Kaffee ist nicht Luxus,<br />
sondern Menschenrecht.<br />
Das heißt nicht, dass der Kaffee an sich<br />
hier nicht ernst genommen wird – im<br />
Gegenteil. Es gibt wenige so stolze Menschen<br />
wie italienische Barista. Ihr Stolz ist<br />
allerdings grundverschieden von jenem<br />
ihrer schlechten Third-Wave-Kollegen (es<br />
gibt natürlich auch gute) mit Bart und<br />
Männerdutt, die sich mehr in der Tradition<br />
des Propheten sehen denn in der des<br />
Dienstleisters. Der Stolz des italienischen<br />
Barista ist der schöne, demütige Stolz, eine<br />
scheinbar schlichte Arbeit so gut wie nur<br />
irgendwie möglich zu machen.<br />
Hoffnung – und das Leben unendlich<br />
Der gute Barista in Italien (es gibt natür schöner als der beste Kaffee. <<br />
okt–nov <strong>2019</strong><br />
falstaff<br />
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