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Zbornik Mednarodnega literarnega srečanja Vilenica 2004 - Ljudmila

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Peter Steiner<br />

Wo immer du willst<br />

… il suo parlare, e’l bel viso et le chiome<br />

mi piacquen sí, ch’i l’ň dinanzi agli occhi<br />

et avrň sempre, ov’io sia, in poggio o’n riva.<br />

... ihr Sprechen und das Antlitz und die Locken<br />

gefielen mir so sehr, daß sie vor Augen mir<br />

schwebt und schweben wird auf Berg und Ufer.<br />

Petrarca Canzoniere<br />

1 Die blaue Distel<br />

Es tagt, und nun kann ich sehen, daß der Flecken Wiese inmitten der<br />

Macchie noch grün ist, ein gebrochenes Grün im gelben Hauch des<br />

Herbstes. Auf diesem stillen Platz bin ich erwacht. Die Sonne ist noch<br />

nicht aufgegangen, aber ihr Nahen hilft mir, die Umgebung nach den<br />

Richtungen des Himmels zu orten. Ein flacher Waldrücken im Süden<br />

trennt mich vom Meer. Ich könnte zu Fuß nach Triest gehen, durch ein<br />

Dickicht aus krummen Eichen, Wacholder und Stechpalmen. Ich habe<br />

viel Zeit und will diese Kostbarkeit nutzen, obwohl sie mich quält wie<br />

schon lange nicht. Hat je einer die Geliebte mit größerer Sehnsucht<br />

erwartet?<br />

Und doch ist mir ein Fehler unterlaufen. Ich habe mich geirrt, bin<br />

einen Tag zu früh von zuhause weggefahren. Es ist mir unerklärlich, wie<br />

es dazu kam. Mehrmals hat Hanna den Tag genannt, ich aber brach auf,<br />

als wäre ich zu spät dran, fuhr ruhelos, ohne anzuhalten, blieb an keinem<br />

der in Betracht gezogenen Rastplätze stehen, bis ich weit nach Mitternacht<br />

diesen Feldweg in die Macchie fand, wo ich jetzt stehe, einen Tag zu früh.<br />

Es ist das erste Mal, daß Hanna in meine Heimat kommt. Heimat ist<br />

freilich ein weit gefaßter Begriff, nicht der übliche in seiner räumlichen<br />

und sprachlichen oder gar nationalen Begrenztheit. Meine Vorstellung<br />

vom Zuhause ist eine andere. Ich wurde in Europa geboren, wo ich derzeit<br />

lebe, irgendwo in der Mitte – wobei ich mich hüte, diese Mitte Herz zu<br />

nennen –, aber ich verbrachte viele Jahre anderswo. Daher ist mir der<br />

Blick auf das Land meiner Herkunft von außen vertraut. In mir gehorcht<br />

Heimweh nicht einer Richtung, es hat sich davon gelöst und ist, mit<br />

Fernweh vereint, schließlich allgegenwärtig geworden. Mag sein, daß mich<br />

das von Hanna unterscheidet, die zum ersten Mal über den Atlantik mir<br />

entgegen kommt. Bisher reiste immer ich von der sogenannten Alten Welt<br />

in die sogenannte Neue Welt. Diesmal ist es umgekehrt. Vielleicht trug<br />

das zu meinem Irrtum bei, gerieten mir deshalb die Tage durcheinander,<br />

aus Erregung, daß Hanna nach all den Jahren, die sie mich immer wieder<br />

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