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Zbornik Mednarodnega literarnega srečanja Vilenica 2004 - Ljudmila

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Peter Steiner<br />

bei sich zuhause aufnahm, nun endlich mein Zuhause sehen soll, auch<br />

wenn es nur ein Landstrich meines größeren Zuhauses ist.<br />

Dabei beanspruche ich so wenig Platz. Mit zwei, drei Handgriffen ist<br />

das Bett in meinem Auto wieder eine Sitzbank, der Tisch aus der Wand<br />

heraus geklappt. Schon stelle ich Wasser für den Morgenkaffe auf dem<br />

kleinen Gasbrenner zu. Während dieser faucht, entferne ich mich einige<br />

Schritte von dem Wagen. O Wohltat des nachtkalten Taus an den nackten<br />

Füßen! Das weckt mich ein zweites Mal. Und plötzlich stehe ich von einer<br />

noch nie gesehenen dunkelblauen Distel. Die »Blüte« setzt sich aus acht<br />

dünnen, lanzenspitzen Blättern zusammen, mehr Stacheln, die eine Kugel<br />

aus dicht gedrängten Staubgefäßen schützen. Ich will sie pflücken und in<br />

meine Fahrerkabine hängen, wo sie sich drehen kann, als ideale Windrose<br />

für jede Richtung.<br />

Wenige Schritte von hier verläuft der alte Fahrweg von Sežana zu dem<br />

aufgelassenen Pferdegestüt von Lipica. Niemand verwendet heute diese<br />

einmal rascheste, weil kürzeste Verbindung. Die ganze Nacht und auch<br />

seit dem frühen Morgen kam niemand vorbei. Man benutzt die<br />

Asphaltstraße über <strong>Vilenica</strong> weiter im Norden. Als ich dorthin aufbreche,<br />

steht die Sonne hoch. Der Weg führt vorbei an tiefen, felsigen Dolinen.<br />

Autospuren kreuzen die Böschung in den Wald, zerfurchte Erde füllt die<br />

Senken zwischen zackigem Gestein, Gras und niedriges Buschwerk wurde<br />

niedergewalzt. Neben den Spurrillen der Autoreifen kleben gebrauchte<br />

Kondome und Papiertaschentücher. Unter einer Kiefer liegt ein in Falten<br />

gequetschtes Pornomagazin aus Kroatien, voll Amateurbildern mit<br />

Adressen aus allen Provinzen des Landes, eine wahllose Sammlung<br />

schamlos dargebotener Geschlechter, eine Kraterlandschaft des Fleisches.<br />

Und immer noch warte ich auf die erste menschliche Begegnung. Auch<br />

an der Tropfsteinhöhle von <strong>Vilenica</strong> bin ich allein. Ein Schild verweist auf<br />

die Tiefe von 190 Metern. Daneben führt eine Treppe steil hinab durch<br />

bemoosten Fels an ein eisernes Gittertor. Das ist versperrt. Aus dem<br />

Dunkel höre ich Wasser tropfen. Das Geräusch bleibt mir lange im Ohr.<br />

Ist es der pfadlose, steinige Grund, durchbrochen von wasserschluckenden<br />

Löchern, ist es die willkürliche Grenze, die das Hinterland von der<br />

Küste abschneidet? Ich weiß nicht, worin der Zauber dieses Landstrichs<br />

begründet liegt, aber die Einsamkeit um mich ist eine solche, als lebte<br />

hier keiner, als läge das Land verlassen seit Adam und Eva daraus vertrieben<br />

wurden. Mir ist, als seien die Dörfer, oder das, was ich erblicke, wenn ich<br />

um eine Kurve biege oder über einen Hügel komme – einen Giebel, einen<br />

Erker, eine Durchfahrt zwischen zwei wuchtigen Hausecken aus nacktem<br />

Stein – nur Modell für den Fall, daß das Land von Menschen entdeckt<br />

würde. Wäre ich weniger frohgemut, dächte ich vielleicht, es habe eine<br />

Epidemie erlitten, die keiner überlebte. Und dennoch, selbst der<br />

Mutloseste muß sehen: da ist ein offener Weg, dort eine gemähte Wiese,<br />

ein bearbeiteter Weinberg, Dolinen, auf deren Grund Gemüse wächst,<br />

und nicht weit entfernt hört er dann vielleicht auch den Motorlärm eines<br />

Traktors oder einer Schubraupe.<br />

Dieses Land gleicht einem Park, als hätten geübte Gärtner seine<br />

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