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Zbornik Mednarodnega literarnega srečanja Vilenica 2004 - Ljudmila

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Die Frau in den Kissen<br />

Brigitte Kronauer<br />

Früher besuchte ich eine sehr alte Frau, die immer in ihrem Bett saß. Hinter<br />

dem Bett, das man ans Fenster gerückt hatte, stand ein mit schwarzen<br />

Leisten verzierter, wellig gemaserter Schrank. Seine vielen offenen Fächer<br />

und Borde waren leer geräumt bis auf das Foto eines Mannes, der einen<br />

Hut trug und Pfeife rauchte. Ich sah nie, daß sie den Kopf dorthin<br />

zurückdrehte, sie konnte es wohl von ihrem Platz aus nicht mehr. Über<br />

ihrem Kopf befand sich ein kleines Loch in der Schranktür. Den herausgebrochenen<br />

Griff hatte man durch eine Drahtschlinge und einen Haken<br />

ersetzt. Von dem Fenster fiel ein wenig Licht auf das rotkarierte Oberbett<br />

und die blauen Nelken des Kissens. Zwischen Fensterbrett und Körper<br />

der Frau war zum Schutz gegen die Nachtkühle von außen eine zweite,<br />

gelbliche Decke gestopft. Das übrige Zimmer blieb im Dunkeln, und unter<br />

dem rotkarierten Federbett zog sie oft noch eine dünne Wolldecke bis<br />

über ihre Brust.<br />

»Hier ist alles genauso, wie sie es haben will«, sagte die Tochter. Ich<br />

hörte es an, und als sie das Zimmer verlassen hatte, sagte ich laut: »Der<br />

Malaienbär ist jetzt allein. Einer von beiden, Männchen oder Weibchen,<br />

ist verschwunden. Der übriggebliebene geht auf dem Beton hin und her,<br />

ohne Geräusch. Nur zwei Ausländer, die vor seinem Käfig Unkraut in einen<br />

Eimer jäteten, haben gesprochen.« Danach schwieg ich eine Weile. Ich<br />

hätte auch gar nicht so fortfahren können. Die Wörter mußten bei ihr<br />

eintreffen, einen Weg suchen in sie hinein, und schließlich würde sie mir,<br />

viel später, antworten. Der Zoo interessierte uns beide. An anderen Tagen<br />

erzählte ich ihr, da sie einmal eine leidenschaftliche Steinsammlerin<br />

gewesen war und sich von Leuten, die Reisen machten, Steine, meist ohne<br />

irgendeinen Wert, mitbringen ließ, die sie aber genau beschriftete mit<br />

Angabe des Fundorts, des Überbringers und Jahres, und die im Laufe ihres<br />

langen Lebens durch das energische Voranschreiten des Tourismus für<br />

jedermann »Steine aus aller Welt« wurden, wie sie die Sammlung nannte,<br />

an anderen Tagen also erzählte ich ihr von den Ausstellungsstücken einer<br />

Mineralienhandlung, von den funkelnden, manchmal wie mit Schnee<br />

bedeckten Kristallen, in Vitrinen eingesperrte Sonnenauf- und –untergänge<br />

über Bergspitzen, von Sicherheitsschlössern bewachte, vielfache<br />

Arten des Glühens, versiegelt im leuchtendsten Augenblick.<br />

Es gab noch etwas Drittes, von dem ich ihr berichten konnte. Das waren<br />

wichtige Ereignisse aus der Nachbarschaft, ein Diebstahl, die plötzliche<br />

Hochzeit der leichtlebigen Frau Hoffmann, ein Lotteriegewinn, eine Schlägerei<br />

zwischen dem Sektenmitglied Schmidt und dem Invaliden Karl. All<br />

das, mit kräftiger Stimme und beträchtlichen Pausen vorgetragen, ließ<br />

sie auf ihre Art herumfahren: Sie lächelte kopfschüttelnd, wenn ich nur<br />

geduldig wartete, nahm es in langsamer Begierigkeit auf. Sie trug ein zartblaues,<br />

wattiertes Bettjäckchen, das die braun gefleckten, mageren Unterarme<br />

nicht bedeckte. Ihre Hände griffen die Zipfel der Kissen, ihre Haare<br />

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