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JGW-SchülerAkademie Papenburg 2011 - Jugendbildung in ...

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5 Gedenken oder Vergessen?<br />

5.4 Das kollektive Gedächtnis nach Maurice Halbwachs<br />

Der französische Philosoph und Soziologe Maurice Halbwachs (1877–1945) stellte 1925<br />

<strong>in</strong> Les Cadres sociaux de la mémoire die These auf, der Mensch könne sich nicht ohne<br />

Anb<strong>in</strong>dung an die Gesellschaft an etwas er<strong>in</strong>nern. Jeder Mensch sei fest <strong>in</strong> gesellschaftlichen<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen, den »cadres sociaux« verankert, die durch kommunikative<br />

Teilnahme an bestimmten Gruppen entstünden. Die wichtigsten Er<strong>in</strong>nerungsrahmen<br />

seien Sprache, Zeit, Raum und Erfahrung.<br />

Die Abhängigkeit von der Gesellschaft bezeichnet Halbwachs als kollektives Gedächtnis<br />

– kollektiv im Gegensatz zum <strong>in</strong>dividuellen Gedächtnis. E<strong>in</strong> solches sei jedoch nur<br />

bei e<strong>in</strong>em komplett isoliert aufgewachsenen Menschen zu f<strong>in</strong>den oder im Traum (Halbwachs<br />

1985: 366–367). Denn nur die unmittelbaren Wahrnehmungen und Empf<strong>in</strong>dungen<br />

e<strong>in</strong>es Menschen s<strong>in</strong>d nach Halbwachs <strong>in</strong>dividuell. Sobald er beg<strong>in</strong>ne, zu verstehen,<br />

benennen oder auszudrücken, nehme er Bezug auf die ihn umgebenden Rahmen, wobei<br />

die Sprache der hauptsächlichste sei (Pethes 2008: 53).<br />

Diese durch Bee<strong>in</strong>flussung e<strong>in</strong>er Gruppe gebildete Er<strong>in</strong>nerung werde beim Er<strong>in</strong>nerungsprozess<br />

leicht verformt, da der Mensch bei jedem Reproduktionsvorgang den Wert<br />

der e<strong>in</strong>zelnen Aspekte anders gewichte (Halbwachs 1985: 381–382).<br />

E<strong>in</strong> Beispiel hierfür gibt Halbwachs <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er empirischen Studie La Topographie légendaire<br />

des Evangiles en Terre Sa<strong>in</strong>te (1941), <strong>in</strong> der er die Verbreitung und die Wirkung<br />

kollektiver Glaubensvorstellungen im Wandel der Zeit erforscht. Gemäß Halbwachs s<strong>in</strong>d<br />

»Er<strong>in</strong>nerungen an die Vergangenheit wesentlich [. . .] Rekonstruktionen im Lichte der<br />

Gegenwart« (Wetzel 2009: 61). Das Gedächtnis der religiösen Gruppe werde somit zum<br />

religiösen Gedächtnis, <strong>in</strong>dem die geme<strong>in</strong>samen Traditionen und Riten, die e<strong>in</strong>e symbolische<br />

Kraft besäßen, sich dauerhaft im kollektiven Gedächtnis verankerten (Wetzel 2009:<br />

69–70; 74–75).<br />

Des Weiteren ergänzt Halbwachs <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em posthum veröffentlichten Werk La mémoire<br />

collective se<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition des kollektiven Gedächtnisses <strong>in</strong>sofern, als er ihm e<strong>in</strong>e soziale<br />

Funktion beimisst. Dadurch und durch anerkannte Werte und Standards würde das<br />

kollektive zum kulturellen Gedächtnis und somit zur Sammelstelle für Er<strong>in</strong>nerungen<br />

(Wetzel 2009: 76–77).<br />

Trotz dieser Funktion als e<strong>in</strong>e Art Archiv unterscheide sich das kollektive Gedächtnis<br />

von der Geschichte: Es gebe mehrere zeitlich und räumlich begrenzte kollektive Gedächtnisse,<br />

die im Gegensatz zur Gesamtgeschichte nicht <strong>in</strong> künstliche Epochen e<strong>in</strong>geteilt<br />

seien (Wetzel 2009: 78–79).<br />

Halbwachs’ Theorie wurde von Jan und Aleida Assmann aufgegriffen und weiterentwickelt.<br />

Laut diesen unterteilt sich das kollektive Gedächtnis <strong>in</strong> das kommunikative<br />

und das kulturelle Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis setze sich aus den Erzählungen<br />

und mündlichen Überlieferungen zusammen und umfasst nach Assmann<br />

ungefähr 80 Jahre (ca. drei Generationen). Im kulturellen Gedächtnis h<strong>in</strong>gegen seien<br />

alle Er<strong>in</strong>nerungen e<strong>in</strong>er Kultur gesammelt sowie alle für diese Kultur wichtigen Ereignisse,<br />

Symbole etc. Dieses Gedächtnis sei wiederum unterteilt <strong>in</strong> Funktions- und<br />

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