JGW-SchülerAkademie Papenburg 2011 - Jugendbildung in ...
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6 E<strong>in</strong>e philosophische Analyse der Liebe<br />
Leser und Text zustande kommt und das Zwiegespräch zwischen beiden e<strong>in</strong>geleitet wird,<br />
ist es möglich, Platons eigentliche »ungeschriebene« Lehre zu verstehen. Will heißen:<br />
Es ist das H<strong>in</strong>terfragen mancher nicht selten ironisch dargestellter Beziehungen und<br />
Sachverhalte, das Weiterentwickeln e<strong>in</strong>fach ersche<strong>in</strong>ender Gedankenstränge, kurzum,<br />
die Urteilsbildung des Lesers, auf die Platon abzielt. Protagonist der meisten Dialoge ist<br />
Sokrates, der, sich se<strong>in</strong>er maieutischen Lehrweise bedienend, se<strong>in</strong>e Gesprächspartner<br />
stets regelrecht dazu »zw<strong>in</strong>gt«, Wissen, oder präziser formuliert, E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die D<strong>in</strong>ge<br />
selbst zu erwerben – und sei es »nur« jene <strong>in</strong> die Unbeantwortbarkeit diverser den<br />
Menschen betreffenden Grundkonstanten.<br />
Das Kernproblem der Dialoge stellt demnach die Frage nach der arete (Tugend) und<br />
der Seelsorge dar. Dies soll illustriert werden an e<strong>in</strong>em Werk aus Platons mittlerer<br />
Schaffensperiode, nämlich am Phaidon.<br />
Phaidon In diesem Dialog Platons berichtet Phaidon, Freund des Sokrates, von den<br />
letzten Gesprächen am Todestag des großen Philosophen:<br />
Sokrates sitzt im Jahre 399 v. Chr. nach der Verurteilung zum Tod im Athener Staatsgefängnis,<br />
umgeben von se<strong>in</strong>en engsten Freunden, und philosophiert mit ihnen angesichts<br />
des nahen Todes über die Unsterblichkeit der Seele.<br />
Warum ist Sokrates unmittelbar vor se<strong>in</strong>em Lebensende vollkommen gelassen und<br />
zufrieden? Warum empfiehlt er sogar e<strong>in</strong>em anderen Philosophen, ihm bald <strong>in</strong> den Tod<br />
zu folgen? Diese Fragen der Anwesenden geben Sokrates den Anstoß zu den folgenden<br />
Ausführungen.<br />
128<br />
– Der Körper-Seele-Dualismus<br />
Der Tod bedeutet die Trennung der Seele vom Körper; tot-se<strong>in</strong> heißt, die Seele<br />
existiert alle<strong>in</strong> für sich, losgelöst vom Körper. Dieser Zustand ist für jeden wahren<br />
Philosophen erstrebenswert; ihn zu erreichen ist oberstes Ziel. Denn: Kriege,<br />
Krankheit, Unvernunft, Maßlosigkeit – alles Übel hat se<strong>in</strong>e Ursache im Körper<br />
und se<strong>in</strong>en Bedürfnissen. Er verlangt nach Pflege, Nahrung, Fürsorge jeglicher Art,<br />
er beh<strong>in</strong>dert den Menschen beim Denken, lenkt ihn vom Philosophieren ab. Die<br />
S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke, die der Körper liefert, s<strong>in</strong>d trügerisch, wechselhaft und unvollkommen.<br />
Dies widerstrebt dem Philosophen jedoch zutiefst: Der philos (Freund)<br />
der sophia (Wissen, Erkenntnis) darf sich beim Streben nach to on (dem wirklich<br />
Seienden) weder auf se<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke verlassen, noch den Verlockungen des<br />
Körpers nachgeben. E<strong>in</strong> wahrhaftiger Philosoph strebt die Abwendung vom Körper<br />
und H<strong>in</strong>wendung zur Seele an. Damit übt sich der Philosoph e<strong>in</strong> Leben lang <strong>in</strong><br />
der Trennung von Körper und Seele, er bef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> ständiger melete thanatou,<br />
E<strong>in</strong>übung des Todes. Der Tod selbst erfüllt schließlich das lebenslange Streben;<br />
nach dem Tod kann die Seele, befreit aus dem soma (Körper) als ihrem sema (Grab),<br />
endgültig Erkenntnis erlangen. Daher ist der Tod nichts Böses, geschweige denn<br />
etwas Beängstigendes.<br />
– Die Ideenhypothese als Unsterblichkeitsargument<br />
Unter Sokrates’ Freunden besteht jedoch die Sorge, die Seele könne sich nach