JGW-SchülerAkademie Papenburg 2011 - Jugendbildung in ...
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5 Gedenken oder Vergessen?<br />
5.1 E<strong>in</strong>leitung<br />
Andreas Schlüter und Johannes Waldschütz<br />
»Die Geschichte ist ke<strong>in</strong> Friedhof«, hat der französische Philosoph Paul Ricoeur e<strong>in</strong>mal<br />
gesagt – »nur die lebendige Er<strong>in</strong>nerung« der Zeitzeugen gebe den Blick frei auf die<br />
»Träume, hochfliegende[n] Hoffnungen, Projekte« der historischen Akteure (Ricoeur<br />
1998). Und nicht nur die Beliebtheit von Geschichtsdokumentationen im Fernsehen zeigt,<br />
dass die Beschäftigung mit Er<strong>in</strong>nern und Vergessen <strong>in</strong> den letzten beiden Jahrzehnten<br />
immer stärker zugenommen hat. Die meisten Historiker im Wissenschaftsbetrieb<br />
s<strong>in</strong>d dagegen deutlich skeptischer, was die Verlässlichkeit und Aufrichtigkeit solcher<br />
Er<strong>in</strong>nerungen betrifft. In diesem Spannungsfeld zwischen lebendigem E<strong>in</strong>tauchen <strong>in</strong><br />
das Vergangene und nüchterner Distanz bewegte sich unser Kurs. Das gab uns die<br />
Möglichkeit, Grundlagen und Methoden der Geschichtswissenschaft zu diskutieren und<br />
so zu verstehen, was Wissenschaftlichkeit ausmacht.<br />
Im ersten Teil erarbeiteten wir uns geme<strong>in</strong>sam die <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Grundlagen:<br />
Wir bekamen e<strong>in</strong>en Überblick, was <strong>in</strong> den Naturwissenschaften und der Psychologie,<br />
<strong>in</strong> der Philosophie und unter Historikern über das Er<strong>in</strong>nern herausgefunden und<br />
gedacht worden ist. Zentral ist die Erweiterung des Er<strong>in</strong>nerungsbegriffs vom Gedächtnis<br />
E<strong>in</strong>zelner auf Gruppen und ganze Gesellschaften, die so an e<strong>in</strong>em kollektiven Gedächtnis<br />
teilhaben können. Und durch Friedrich Nietzsche machten wir uns damit vertraut, dass<br />
auch das Vergessen se<strong>in</strong>en Nutzen haben kann.<br />
So gerüstet, nahmen wir im zweiten, genu<strong>in</strong> historischen Teil den Umgang mit<br />
Er<strong>in</strong>nern und Vergessen <strong>in</strong> verschiedenen Zeiten und Kulturen <strong>in</strong> den Blick: Die mittelalterliche<br />
Memorialkultur rückte angesichts der tief verankerten Frömmigkeit das Jenseits<br />
ständig <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong>. Wie das Er<strong>in</strong>nern <strong>in</strong> den Dienst der Macht treten kann, zeigte<br />
uns z. B. der kreative Rückgriff von Adligen auf verme<strong>in</strong>tliche Ahnen zur eigenen<br />
Herrschaftssicherung. Die immer wieder verfe<strong>in</strong>erte damnatio memoriae bediente sich als<br />
Herrschaftstechnik auch des Vergessens. Es zeigte sich, dass im Lauf der Geschichte<br />
ganz unterschiedlich mit Gedenken und Vergessen umgegangen wurde, was auf uns<br />
heute fremd und unverständlich wirken kann.<br />
Mit diesem Wissen betrachteten wir im dritten Kursteil Er<strong>in</strong>nerungsformen und<br />
-konstruktionen der Gegenwart, u. a. die Inszenierung von Geschichte <strong>in</strong> Museen und<br />
Medien, den Stellenwert historischer Er<strong>in</strong>nerung beim Umgang mit historischem Unrecht<br />
oder die Bedeutung von Geschichtspolitik <strong>in</strong> demokratischen wie totalitären Gesellschaften.<br />
Als Klammer dienten dabei Fragen, die das Thema Er<strong>in</strong>nerung im H<strong>in</strong>blick auf die<br />
wissenschaftliche Praxis zu verorten versuchten: Wie bee<strong>in</strong>fluss(t)en historische Prozesse<br />
die <strong>in</strong>dividuelle und kollektive Er<strong>in</strong>nerung? Wie kann die (historische) Wissenschaft mit<br />
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