JGW-SchülerAkademie Papenburg 2011 - Jugendbildung in ...
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5.3 Glücklich ohne Er<strong>in</strong>nerung?<br />
5.3 Glücklich ohne Er<strong>in</strong>nerung? Philosophische Betrachtungen Nietzsches<br />
über den »Nutzen der Historie«<br />
Nietzsche wurde 1844, im Zeitalter des Historismus, geboren. Im gesamten westlichen<br />
Kulturkreis suchte man <strong>in</strong> dieser Zeit nach se<strong>in</strong>en ethnischen Wurzeln; Geschichte wurde<br />
zur wichtigsten Wissenschaft. Diesem Gesellschaftsbild stellte Nietzsche im zweiten<br />
Teil se<strong>in</strong>er »Unzeitgemäßen Betrachtungen« (erschienen 1874) e<strong>in</strong>e neue Theorie des<br />
Vergessens gegenüber.<br />
»Es ist möglich, fast ohne Er<strong>in</strong>nerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Thier<br />
zeigt, es ist aber ganz und gar unmöglich ohne Vergessen überhaupt zu leben« (Nietzsche<br />
1954: 213). Wenn wir nur er<strong>in</strong>nern, unterdrücken wir nach Nietzsche unsere Triebe des<br />
Vergessens, was heißt, dass die Historie uns zw<strong>in</strong>gt, uns selbst zu verleugnen. Jenes<br />
Übermaß an Historie erzeuge e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Konflikt und schwäche die Persönlichkeit.<br />
Des Weiteren lasse es uns <strong>in</strong> der Vergangenheit leben und die Gegenwart »vergessen«<br />
(Nietzsche 1954: 219–221).<br />
Doch auch Nietzsche sah <strong>in</strong> der Historie nicht nur etwas Negatives, sondern hielt<br />
sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gewissen Maß für s<strong>in</strong>nvoll. Hierfür schlägt er e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation aus drei<br />
verschiedenen Betrachtungsweisen vor: die monumentale, die antiquarische und die<br />
kritische Historie (Nietzsche 1954: 219–238). Der monumentale Mensch sehe Geschichte<br />
als e<strong>in</strong>en sich wiederholenden Kreislauf, als etwas Besonderes, und nutze sie als Mittel<br />
gegen Resignation. Das berge die Gefahr, dass man nach der Vergangenheit lebe und<br />
handele; deshalb benötige man die antiquarische Betrachtungsweise. Der antiquarische<br />
Mensch sehe sich als Teil der Geschichte, ohne dass er E<strong>in</strong>fluss auf sie hätte. Gefährlich<br />
sei hier, dass man <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er »kle<strong>in</strong>en Welt« lebe und die Übersicht verliere. Deswegen<br />
bestehe die Notwendigkeit der kritischen Historie, die über die Vergangenheit richte und<br />
selektiv entscheide, was vergessen werde und was nicht. Nur wenn man Historie so <strong>in</strong><br />
den »Dienst des Lebens« stelle, sei sie s<strong>in</strong>nvoll.<br />
Man könnte Nietzsches Gedanken, dass das Vergessen der Vergangenheit wichtig<br />
sei, um die Gegenwart wahrzunehmen, mit der Theorie von Jan und Aleida Assmann<br />
vergleichen. Diese teilt unser »gesellschaftliches Gedächtnis« <strong>in</strong> zwei Gedächtnisse:<br />
<strong>in</strong> das kommunikative Gedächtnis und das kulturelle Gedächtnis. Das kommunikative<br />
Gedächtnis habe e<strong>in</strong>e Dauer von etwa 80 Jahren und beruhe auf sozialer Interaktion.<br />
Das kulturelle Gedächtnis sei wiederum <strong>in</strong> zwei Gedächtnisse unterteilt: Funktions- und<br />
Speichergedächtnis. Im Funktionsgedächtnis befänden sich alle Informationen, die im<br />
Moment für unsere Kultur wichtig seien, während im Speichergedächtnis unser gesamtes<br />
historisches Wissen (Archive etc.) gespeichert seien (Assmann 2006: 5). Man könnte also<br />
sagen, dass das, was Nietzsche als »s<strong>in</strong>nvolles Vergessen« bezeichnet, eigentlich nur e<strong>in</strong><br />
Verschieben von irrelevanten Informationen vom Funktions- <strong>in</strong>s Speichergedächtnis ist.<br />
Nietzsches Werke im Gesamtbild kann man kontrovers sehen, da sie im frühen<br />
Stadium historienkritisch und im mittleren und späten historienfreundlich s<strong>in</strong>d (Ottmann<br />
2000: 255). Daraus kann man schließen, dass Nietzsche selbst im Laufe se<strong>in</strong>es Lebens<br />
se<strong>in</strong>e historienkritische Theorie des Vergessens relativiert hat. Diese viel diskutierte<br />
Theorie eröffnete die Sicht auf die positiven Seiten des Vergessens, weshalb sich die<br />
Ansätze vieler heutiger Historiker auf Nietzsche zurückverfolgen lassen.<br />
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