JGW-SchülerAkademie Papenburg 2011 - Jugendbildung in ...
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5.9 Invented traditions<br />
In diesen Chroniken fand man normalerweise e<strong>in</strong>e Legende über den Ursprung<br />
des beschriebenen Geschlechtes. Im Vordergrund stand der Versuch, die Familie des<br />
Auftraggebers <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em guten Licht darzustellen und ihr e<strong>in</strong>e möglichst lange und<br />
ehrenvolle Herkunft zu verleihen. So führten viele Stammbäume <strong>in</strong> den Bereich der<br />
Mythen und Sagen und des Alten Testamentes. Zudem wurde versucht, e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung<br />
zu den neun Guten Helden zu ziehen (Czech 2003: 41).<br />
E<strong>in</strong> beliebter Ursprung war auch der aus e<strong>in</strong>er römischen Adelsfamilie. So leiteten sich<br />
sowohl das Geschlecht der Henneberger als auch die der Stolberg, Zollern und Reuß zeitweise<br />
von der Adelsfamilie Colonna ab (Czech 2003: 53). Durch die Wiederentdeckung<br />
der »Germania« des Tacitus <strong>in</strong> der Zeit des Humanismus wurde der Ursprung e<strong>in</strong>er<br />
Familie von den Germanen immer häufiger, da die »Deutschen« nun die Germanen zu<br />
ihrer Urgeschichte zählten.<br />
Viel Wert wurde darauf gelegt, Tapferkeit, Frömmigkeit und die frühe hohe Stellung<br />
der Ahnen zu betonen. Damit wollte man zeigen, dass die eigene Familie ihren Platz <strong>in</strong><br />
der Gesellschaft verdient habe oder dass sie sogar e<strong>in</strong>en höheren Platz verdient hätte.<br />
Hatte e<strong>in</strong>e Familie wichtige »Vorfahren« gefunden, verwies sie auf diese mit Hilfe von<br />
Wappen, Münzen, Ahnenporträts, Gemälden oder Inschriften (Czech 2003: 118).<br />
Auch Zünfte hatten ihre Ursprungslegenden. Auffällig ist bei diesen allerd<strong>in</strong>gs, dass<br />
solche Legenden nur <strong>in</strong> Städten auftraten, <strong>in</strong> denen der gesellschaftliche Rang der Zünfte<br />
eher niedrig war. So hatten die Zünfte <strong>in</strong> Frankfurt und Nürnberg Geschichten über<br />
die Anfänge ihrer Handwerke, die Zünfte aus Köln und Straßburg h<strong>in</strong>gegen nicht.<br />
Patrick Schmidt erklärt dies damit, dass die Ursprungslegenden als »positive Identifikationsmöglichkeiten«<br />
halfen, das Selbstbild e<strong>in</strong>er Zunft und ihrer Mitglieder sowie<br />
ihr Geme<strong>in</strong>schaftsgefühl zu stärken. In Köln und Straßburg sei dies nicht notwendig<br />
gewesen, da die Stellung der Zünfte <strong>in</strong> diesen Städten höher war und die Zünfte politisch<br />
mehr Mitspracherecht besaßen als die Zünfte <strong>in</strong> Frankfurt und Nürnberg und somit<br />
auch ohne Ursprungslegenden e<strong>in</strong> hohes Selbstbild besaßen (Schmidt 2007: 131).<br />
An der Thematik der Ursprungslegenden lässt sich erkennen, dass Menschen der Frühen<br />
Neuzeit Vergangenes als e<strong>in</strong> Mittel der Selbstdarstellung nutzten. So kann man sich<br />
auf die historische Wirklichkeit der Ursprungslegenden zwar nicht verlassen, aber sie bieten<br />
»hervorragende Zeugnisse bei der Suche nach vergangenen Vorstellungshorizonten<br />
und Denkweisen« (Hecht 2006: 2).<br />
5.9 Invented traditions<br />
5.9.1 Europa um 1871<br />
Durch die Entstehung von Nationen änderte sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
die Lage <strong>in</strong> Europa grundsätzlich. Mit dem Prozess der Nationsbildung g<strong>in</strong>g häufig<br />
e<strong>in</strong>e Demokratisierung e<strong>in</strong>her, die die Legitimierung der Staaten und ihrer Herrschaftsstrukturen<br />
herausforderte.<br />
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