Briefe über Syphilis

348
noch nicht recht, wie ich diese Einleitung mit dem Folgenden
im Einklang bringen soll, denn ich habe Ihnen einen Vorwurf
zu machen und eine Lücke zu bezeichnen.
Der Vorwurf ist nicht nur der Ausdruck meiner persön­
lichen Meinung, sondern die Ansicht vieler Collegen, die Ge­
schmack, Wissen und Klugheit vereinen, und auf deren Mei­
nung und Rath Sie etwas zu geben pflegen.
Nach dem Hörensagen nun werfe ich Ihnen vor, dass Sie
einigen neueren Ideen über Syphilisation uud Syphilismus zu
viel Wichtigkeit beigelegt haben.
Es giebt in der Wissenschaft Ideen und Prätentionen, die
man eine Zeit lang laufen lassen muss, ehe man sie beachtet.
Sie zu früh critisiren, heissl ihnen einen Schein des Märtyrer-
thums geben, den sie wohl auszubeuten verstehen. Die Wis­
senschaft hat Ueberfluss au solchen unverstandenen Genies, au
diesen verfolgten Erfindern, die nach der Inquisition Galilei's
schmachten. Sie wissen, dass hinler diesen grossen Namen sich
alle Thorheiten des menschlichen Geistes nur zu gern flüchten.
Aber Sic wissen auch, dass man statt eines Galilei tausend
Narren findet.
Es ist ein grosser und unbestreitbarer Grundsatz der Phi­
losophie des Baco, dass vor der wissenschaftlichen Critik, eine
Idee, eine Behauptung nichts ist ohne den Beweis, ohne die
Demonstration, ohne Thatsache. Diese Thatsache fehlte, und
das ist Alles, was Sie festzustellen nölhig gehabt hätten. Sich
auf das Gebiet der Spccnlalion wagen, hiess für Sie, den Mann
der Przxis, sich der Gefahr aussetzen, von Gegnern geschlagen
zu werden, welche die perfide und oft trügerische Waffe der
Dialectik besser zu handhaben verstehen. Mit Worten beweist
man Alles, was man beweisen will. Unser geistreicher CoUege
Malgaigne — auch ein Dummkopf — bewies uns eines Tages,
durch tadellose Syllogismen, dass der Theil eben so gross sei
als das Ganze. Es waren sehr gelehrte Leute dabei, die sich
schon im Voraus erhoben, gegen ein so keckes Unternehmen,
und die stumm blieben, so unangreifbar war der Trugschluss.
Sie üben die allgemeine Chirurgie mit demselben Erfolg,
wie die in Ihr Fach gehörige, und auch Sie waren vor einigen
Jahren ein wenig von der Tarantel gestochen, die ihrer Zeit
sämmtliche Chirurgen in Bezug auf den Strabismus gestochen