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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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Auf eben diese Weise ist auch die Ruderalvegetation der städtischen Abfallflächen<br />

<strong>und</strong> Schmuddelecken, die zuvor eher Schmutz, Unordnung, Unnatur <strong>und</strong> Chaos symbolisierten,<br />

zur »Natur in der Stadt«, ja zu der Natur der Stadt angehoben worden: Unter<br />

der Schirmherrschaft der neuen sozialen Bewegungen sowie mehr oder weniger einflußreicher<br />

Professionen <strong>und</strong> Administrationen, z.B. der Ökologiebewegung, <strong>des</strong> organisierten<br />

Naturschutzes <strong>und</strong> teilweise auch der Profession der Landschaftsarchitekten.<br />

Das zuvor Wertlose wurde nicht nur sichtbarer, sondern auch erlebens- <strong>und</strong> schützenswert,<br />

politik-, propaganda-, lehrplan- <strong>und</strong> marktfähig, wissenschafts-, imitations- <strong>und</strong><br />

kunstwürdig.<br />

Dabei verwandelte sich die Ruderalvegetation nicht nur aus wertlosem Abfall in eine<br />

Art von ewigem <strong>und</strong> unbezahlbarem Gut (»Natur«), sondern auch in ein Konsumgut.<br />

Konsum von Abfall findet i.a. eher in marginalen Gruppen <strong>und</strong> im Verborgenem statt.<br />

Es gibt aber bekanntermaßen Situationen, wo gerade mit dem demonstrativen Konsum<br />

zuvor wertloser Güter Prestige gewonnen werden kann <strong>und</strong> Abfallkonsum Statussymbol<br />

wird. (Das gilt nicht nur im gemeinen Leben, sondern in gewissem Sinne auch in<br />

der Wissenschaft.)<br />

Daher, so spöttelt Thompson in seiner »<strong>Theorie</strong> <strong>des</strong> Abfalls«, die vielen Komposthaufen,<br />

die makrobiotischen Nahrungsmittel, die kleinen französischen Autos, die<br />

schonungsvolle Liebe zu halbtoten uralten Bäumen <strong>und</strong> halbzerfallenen Bauernhäusern<br />

bei Leuten, deren Einkommens- <strong>und</strong> Bildungsniveau uns keinen Augenblick vermuten<br />

läßt, sie seien zu arm, um sich chemischen Dünger, frisches Fleisch, eine Motorsäge,<br />

ein vernünftiges Auto <strong>und</strong> eine moderne Wohnung leisten zu können. Daher, so können<br />

wir nun hinzufügen, die Ruderalgärten <strong>und</strong> ökologischen Wildnisse bei Leuten, die<br />

durchaus auch einen konventionellen Gärtner <strong>und</strong> einen ordentlichen Garten bezahlen<br />

könnten. Und daher wohl auch das auffallende Interesse von Wissenschaftlern, die zwar<br />

in der Stadt wohnen, aber durchaus Mittel hätten, ihre Gegenstände an entfernteren Orten<br />

zu suchen. Parallel dazu, wenngleich bislang mit wenig Erfolg, propagieren<br />

Grünadministrationen, Lan<strong>des</strong>pfleger <strong>und</strong> Stadtplaner ihre Stadtbrachen nicht nur als<br />

Stätten der Naturbegegnung, sondern auch als Stätten der naturnahen Erholung, preisen<br />

also ihren Abfall nicht nur als ewiges, sondern auch als Konsumgut an.<br />

2.9.5 Vernachlässigte, unsichtbare <strong>und</strong> verkannte <strong>Spuren</strong>: Zum Thema »<strong>Spuren</strong>sensibilität<br />

<strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesers«<br />

In der »théorie de la trace« werden die – teilweise etwas mißverständlichen – Termini<br />

»traces délaissées«, »traces inconnues« <strong>und</strong> »traces méconnues« eingeführt <strong>und</strong> definiert,<br />

d.h. »vernachlässigte«, »unbekannte« <strong>und</strong> »verkannte <strong>Spuren</strong>«. »Vernachlässigte«<br />

<strong>Spuren</strong> sind solche, die zwar wahrnehmbar sind, aber als uninteressant oder belanglos<br />

gelten, »unbekannte <strong>Spuren</strong>« solche, die unsichtbar oder unsichtbar geworden sind, <strong>und</strong><br />

»verkannte <strong>Spuren</strong>« solche, die falsch oder unvollständig gelesen werden, z.B., weil die<br />

Beobachtungsinstrumente (noch) fehlen. Diese Ausdrücke sind auch dazu gut, um die<br />

Bedeutung <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesens für die Konstitution der <strong>Spuren</strong> deutlich zu machen. Auf<br />

den analysierten Mäusegersterasen treffen alle drei Begriffe zu. Erstens ist er für Laien,<br />

aber z.T. auch für Vegetationsk<strong>und</strong>ler (<strong>und</strong> bis vor kurzem auch für mich selbst) eine<br />

trace délaissée: zwar wahrnehmbar, aber uninteressant, ja belanglos. Zweitens eine trace<br />

inconnue; denn der in der Mäusegersteflur versteckte Zier- <strong>und</strong> Trittrasen bleibt für<br />

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