06.12.2012 Aufrufe

Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Was heißt das für das »<strong>Spuren</strong>lesen im engeren Sinne«? Dieses »<strong>Spuren</strong>lesen im<br />

engeren Sinne« oder <strong>Spuren</strong>lesen tout court ist eine Form <strong>des</strong> Zeichenlesens. <strong>Spuren</strong>lesen<br />

i.e.S. liegt dann vor, wenn dieses Zeichenlesen nicht oder nicht nur aufgr<strong>und</strong> eines<br />

vorweg bekannten, konventionellen <strong>und</strong> öffentlichen Ko<strong>des</strong> erfolgt; wo also Kodieren,<br />

d.h. die Zuordnung von Signifikanten <strong>und</strong> Signifikaten, nicht (nur) Reproduzieren, Vor<strong>und</strong><br />

Wiederfinden, sondern (mehr) ein Produzieren <strong>und</strong> (Er)Finden, von Zeichen <strong>und</strong><br />

Zeichenbedeutungen ist. <strong>Spuren</strong>lesen i.e.S. ist also weniger ein (Wieder)Kodieren <strong>und</strong><br />

(Wieder)Kontextualisieren von Zeichen, sondern mehr ein Neukodieren, Umkodieren,<br />

Neu- <strong>und</strong> Umkontextualisieren von Zeichen. Je mehr neue Signifikanten <strong>und</strong><br />

Signifikate, umso mehr wirkliches <strong>Spuren</strong>lesen. Das können neue Signifikanten für<br />

neue Signifikate, neue Signifikate für alte Signifikanten <strong>und</strong> neue Signifikanten für alte<br />

Signifikate sein. Alles das kommt z.B. auch bei einem einfallsreichen »<strong>Spuren</strong>lesen in<br />

der Vegetation« vor.<br />

Dieser enge <strong>und</strong> spezifische Begriff von »<strong>Spuren</strong>lesen« also steht hier im Mittelpunkt.<br />

Er soll die üblichen, weiteren Definitionen von »Spur« nicht ersetzen. Es handelt<br />

sich vielmehr um eine Definition zu besonderen Zwecken. Ich glaube aber, gerade im<br />

gegebenen Zusammenhang, aber z.B. auch in der Didaktik, ist diese enge Bedeutung<br />

sehr nützlich.<br />

Damit ist auch klar, worum es beim Entdecken <strong>und</strong> Lesen von <strong>Spuren</strong> (beim <strong>Spuren</strong>lesen<br />

i.e.S.) eigentlich geht, d.h. bei einem Zeichenlesen, bei dem man nicht ohne<br />

weiteres auf einen bereits vorhandenen Kode zurückgreifen kann <strong>und</strong> das sich gewöhnlich<br />

auch nicht auf intendierte Zeichenbedeutung richtet:<br />

1. Überschreiten der üblichen Ko<strong>des</strong>;<br />

2. Semantisieren von noch nicht semantisiertem Gelände.<br />

Im ersten Fall werden vor allem neue Signifikate (für bekannte Signifikanten) entdeckt,<br />

im zweiten Fall auch neue Signifikanten. – Man kann drei Formen solchen <strong>Spuren</strong>lesens<br />

i.e.S. unterscheiden (Hard 1993, S. 71ff.):<br />

1. Aufspüren <strong>des</strong> nicht-intendierten Sinns intendierter Botschaften; <strong>Spuren</strong>sicherung<br />

als Finden von Subtexten;<br />

2. Dekonstruktion, Gegen-den-Strich-lesen (Destruktion <strong>und</strong> Neukonstruktion) offizieller<br />

Verlautbarungen; <strong>Spuren</strong>sicherung als Konstruktion von Gegentexten;<br />

3. Fremdgehen (Aus-dem-Felde-gehen, Paradigmawechsel; <strong>Spuren</strong>sicherung als<br />

Schreiben von Un- <strong>und</strong> Extratexten).<br />

Im Eingangskapitel dieser Arbeit (»Kornrade in der Mäusegerste, Tef in den Rauken«)<br />

bestand die Interpretation der »Kornrade in der Mäusegerste« eher im Herausholen eines<br />

Subtextes, der von Agrarnostalgie bei Städtern handelte, die Interpretation von »Tef<br />

in den Rauken« in<strong>des</strong>sen bestand eher in der Konstruktion eines Gegentextes, nämlich<br />

eines Gegentextes zur quasi-offiziellen Interpretation der Situation als »Naturschutz«<br />

<strong>und</strong> »natürliche Natur«: Die kostspielige »natürliche Natur« der Experten entpuppte<br />

sich im Gegentext als die Natur <strong>des</strong> Weltmarktes, eines Weltmarktes, der die Nachfrage<br />

nach neuen Natursymbolen bedient.<br />

In dem unter 1. beschriebenen Fall geht es z.B. darum, aus den Graffiti oder dem<br />

Gärtnergrün eines Quartiers nicht-intendierte Botschaften herauszulesen, z.B. Informationen<br />

über die Zeichenproduzenten, ihr Publikum <strong>und</strong> über das ganze Quartier (vgl. für<br />

städtische Graffiti Hard 1993, S. 73ff., für städtische Rasen 1990, S. 265ff.). Im 2. Fall<br />

66

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!