Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium
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der Spur haben dabei durchaus einen Eigenwert <strong>und</strong> eine eigene Bedeutung. Je<strong>des</strong> Stadium<br />
in der Geschichte einer Spur kann der gleichen Prozedur einer »fission« unterzogen<br />
werden.<br />
Zweitens geht es um das Signifikat, genauer: um die zahlreichen Signifikate, die der<br />
Spur seit ihrer Herstellung im Lauf der Geschichte an- <strong>und</strong> zugewachsen sind. Das ist –<br />
nach der Identifikation der Spur – die Interpretation der Spur. Wie die Identifikation<br />
<strong>und</strong> Rekonstitution der Spur durch »fission(s)« geschieht, so geschieht die Interpretation<br />
durch »fusion(s)«, d.h. durch Fusion oder Wiedereinfügen der Spur in ihre wechselnden<br />
historischen Kontexte. »Le contexte révèle ... la dimension signifiée du signifiant«;<br />
»le contexte est donneur de sens« (der Kontext offenbart die Bedeutungsdimension<br />
<strong>des</strong> Signifikanten, der Kontext gibt den Sinn). Die Bedeutung(en) <strong>des</strong> historischen<br />
Zeichens werden also durch Re-Kontextualisierung gewonnen, d.h. durch Rekonstruktion<br />
der Genese <strong>und</strong> der weiteren Verwendungszusammenhänge erstens in der originären<br />
(Produktions-) Zeit <strong>und</strong> zweitens in der Zeit der »Tradition«, d.h. in der Überlebens-<br />
<strong>und</strong> Überlieferungszeit der Spur (Abb. 8).<br />
Im Hinblick auf den Signifikanten (die physisch-materielle Dimension der Spur)<br />
spricht d’Haenens von seiner »grammat(olog)ischen Struktur«. Damit ist nicht die<br />
Grammatik im üblichen Sinne gemeint, sondern eine »grammatologie« im Sinne von<br />
Derrida, d.h. alles, was die materielle Struktur (die Materialität) <strong>des</strong> Zeichens, also den<br />
Signifikanten als solchen betrifft (vgl. griech. gramma »Buchstabe, Schrift«, zu graphein,<br />
schreiben); es handelt sich gewissermaßen um eine graphische Struktur <strong>und</strong><br />
nicht um eine Sinnstruktur. Im Hinblick auf die Signifikate (die Bedeutungsdimension)<br />
der Spur spricht d’Haenens von ihrer sem(ant)ischen Struktur. Diese beiden Ebenen <strong>des</strong><br />
historischen Zeichens sind weitestgehend autonom <strong>und</strong> verändern sich weitestgehend<br />
unabhängig voneinander.<br />
Nun beginnen bei d’Haenens (z.T. sehr subtile) Analysen, die auch für das <strong>Spuren</strong>lesen<br />
in ganz anderem Zusammenhängen von hohem Interesse sind. Ich hebe wieder nur<br />
einiges heraus, was mir in empirischen Arbeiten, <strong>und</strong> zwar gerade auch in der Vegetationsk<strong>und</strong>e,<br />
unmittelbar verwendbar erscheint (vgl. wieder Abb. 5).<br />
»La trace est une base marquée«; »la trace c’est une base transformeé par <strong>des</strong> marques«<br />
(die Spur ist eine mit Marken bedeckte Basis; die Spur ist eine durch Marken<br />
transformierte Basis). Die »marques« (Marken, Markierungen) sind die »Narben« <strong>und</strong><br />
»<strong>Spuren</strong>« auf <strong>und</strong> in der Spur (Erosions- <strong>und</strong> Akkumulationsspuren), die vom Gebrauch<br />
herrühren (zuweilen auch vom Nicht-Gebrauch). Sie bezeugen Nutzung, Ab- <strong>und</strong> Umnutzung,<br />
Überarbeitung, Aufbewahrung (wobei diese Aufbewahrung aktiv sein kann,<br />
z.B. durch Musealisierung, oder passiv, z.B. durch Vergessen). Bei »lebenden Artefakten«,<br />
z.B. Gärten <strong>und</strong> Parks, kommt spontanes Wachstum, Altern usf. hinzu Diese Marken<br />
können »originär« sein, wenn sie aus der Herstellungszeit der Spur stammen, oder<br />
»traditionell«, wenn sie aus der folgenden Überlieferungs-, Überle-bens-, Subsistenzoder<br />
Persistenz-Zeit stammen. Eine Spur wird immer wieder zur Basis neuer Marken,<br />
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