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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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den oberflächlichen Blick versteckt. Drittens eine trace méconnue, weil der Nicht-<br />

<strong>Spuren</strong>leser sie spontan eher schief <strong>und</strong> falsch oder auch nur zu flach interpretiert, z.B.<br />

bloß als eine Spur von Unordnung <strong>und</strong> Vernachlässigung oder bloß als Ausdruck <strong>des</strong><br />

aktuellen Standorts, <strong>und</strong> zwar <strong>des</strong>halb, weil ihm das methodologische Rüstzeug <strong>und</strong> die<br />

Beobachtungstechnik fehlen, solche Vegetationsbestände besser zu lesen.<br />

Schon diese Termini führen dazu, nicht nur die Geschichte der Spur, sondern auch<br />

die Geschichte der Konstitution der Spur zum Thema zu machen. Warum hatte die Vegetationsk<strong>und</strong>e,<br />

vor allem der »Standardblick« <strong>des</strong> Vegetationsk<strong>und</strong>lers, oft so wenig<br />

Sinn für die historische Mehrschichtigkeit ihrer Signifikanten? Ich habe schon auf die<br />

Tendenz hingewiesen, auf den Standort hin zu interpretieren, d.h. Vegetationsbestände<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich nicht als Geschichts-, sondern als Standort-Zeichen zu betrachten. Die<br />

Geschichte war fast nur in Form von kurzfristigen Sukzessionszeigern anwesend, aber<br />

auch diese wurden sogar zur Differenzierung der untersten Syntaxa nur ungern eingesetzt.<br />

Dieser Standortbezug beruht wohl zum Teil darauf, daß ein Naturwissenschaftler<br />

eher einen diagnostischen als einen historischen Blick antrainiert bekommt. Beim Vegetationsk<strong>und</strong>ler<br />

kommt das Bedürfnis hinzu, ein klares <strong>und</strong> klar standortbezogenes<br />

syntaxonomisches System eindeutig anzuwenden (»une place pour chaque chose,<br />

chaque chose à sa place«). Ein Beispiel ist auch die phytosoziologische Gliederung der<br />

nordwestdeutschen Waldgesellschaften, wobei ebenfalls oft Geschichtszeichen als<br />

Standortzeichen interpretiert wurden <strong>und</strong> wo die anthropogen-historische <strong>und</strong> die standörtlich-ökologische<br />

Dimension bis heute nicht klar getrennt sind, etwa bei der Trennung<br />

von Buchen-, Buchen-Eichen- <strong>und</strong> Eichen-Hainbuchenwäldern.<br />

Das ist eine Illustration zu dem Programm von d’Haenens (1984, S. 266): »L’histoire<br />

<strong>des</strong> traces, c’est l’histoire de la sensibilité à certains types de témoignages et de<br />

discours« (die Geschichte der <strong>Spuren</strong>, das ist die Geschichte der Sensibilität für bestimmte<br />

Typen von Zeichen, Zeugen <strong>und</strong> <strong>und</strong> Diskursen); eine »histoire <strong>des</strong> traces« sei<br />

immer auch eine »histoire <strong>des</strong> silences«, d.h. eine Geschichte der jeweils präferierten<br />

<strong>Spuren</strong> immer auch eine Geschichte <strong>des</strong> beredten Schweigens, <strong>des</strong> unbemerkten systematischen<br />

Verschweigens <strong>und</strong> der Verdrängungen.<br />

Wohl in der Geschichte jeder Wissenschaft gibt es zahlreiche Episoden der Visibilisierung<br />

neuer <strong>und</strong> der Invisibilisierung alter <strong>Spuren</strong>. Solche Episoden beobachtet man<br />

vor allem im Verlauf von <strong>Theorie</strong>- <strong>und</strong> Paradigmenwechseln aller Maßstäbe. So wie oft<br />

erst eine <strong>Theorie</strong> (oder auch eine Spekulation) Tatsachen sichtbar macht, so erzeugt oft<br />

erst eine spurenerklärende Geschichte eine Spur. Vor allem faszinierende Geschichten<br />

erzeugen ihre <strong>Spuren</strong> <strong>und</strong> plausibilisieren sich dergestalt selber. So z.B. in der Geologie<br />

die (lange für erledigt gehaltene, aber ob ihrer Faszination weiterlebende) Meteoriteneinschlagsgeschichte<br />

(»Impakttheorie«) <strong>des</strong> Barringer-Kraters in Arizona. Im Labor<br />

lernte man eine Hochdruckform <strong>des</strong> Quarzes kennen (Coesit); daraufhin wurde Coesit<br />

beim Barringer-Krater gesucht <strong>und</strong> gef<strong>und</strong>en. Die Pointe ist, daß man Coesit nur findet,<br />

wenn man gezielt (am besten: im Licht <strong>und</strong> unterm Antrieb einer faszinierenden Geschichte)<br />

nach ihm sucht: Diese Kristallart kommt nur in so geringer Menge <strong>und</strong> in so<br />

kleinen Kristallen vor, »daß sie mit Sicherheit nur durch eine röntgenographische Analyse<br />

<strong>und</strong> nach einer besonderen chemischen Anreicherung nachgewiesen werden kann«<br />

(v. Engelhardt <strong>und</strong> Zimmermann 1982, S. 310).<br />

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