Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium
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nicht so sehr auf neue theoretische Interpretationen, das Aufdecken überraschender<br />
Strukturen <strong>und</strong> die Rekonstruktion faszinierender Geschichten, sondern z.B. mehr auf<br />
das Finden von relevanten Signifikanten (<strong>Spuren</strong>, Indizien) <strong>und</strong> auf deren überzeugende,<br />
koordinierte, widerspruchsfreie Dekodierung, <strong>und</strong> er benutzt dabei tunlichst Annahmen,<br />
die schon vorweg als äußerst plausibel anerkannt sind (z.B. Wigger 1980).<br />
Wer z.B. Conan Doyle liest, hat bei allem Vergnügen doch auch immer wieder eine<br />
Enttäuschung zu verkraften: So viel Sherlock Holms auch sieht, was Watson <strong>und</strong> andere<br />
nicht sehen, so viele Interpretationsmöglichkeiten er auch durchspielt, wo andere auf<br />
die erste beste hereinfallen, seine »<strong>Theorie</strong>n« oder Interpretationsmuster sind letztlich<br />
schlicht <strong>und</strong> äußerst commonsensical. Auch das scheinbar geheimnisvolle <strong>und</strong> faszinierende<br />
Verbrechen wird entzaubert, während der originelle <strong>Spuren</strong>leser die Dinge eher<br />
auf originelle Weise verzaubert – zumin<strong>des</strong>t für den, der bisher nur triviale Lesarten<br />
kennt <strong>und</strong> Sinn für diejenige Tätigkeit hat, die man »Entroutinisierung <strong>des</strong> Blicks« <strong>und</strong><br />
»intellektuelle Wirklichkeitsverzauberung« nennen kann.<br />
Der Wissenschaftler als Detektiv (oder der Detektiv als Wissenschaftler) hat auf<br />
mehreren Ebenen mehr Spielräume, weil er weniger Risiken eingeht, falls er Falsches<br />
konstruiert. Und das gilt auch vom mehr oder weniger laienwissenschaftlichem <strong>Spuren</strong>lesen,<br />
z.B. von Studenten <strong>und</strong> Schülern.<br />
Deshalb sind z.B. die <strong>Theorie</strong>n (Intepretationsvorschläge) eines guten wissenschaftlichen<br />
<strong>Spuren</strong>lesers oft schon an sich interessanter als die von guten Detektiven. Man<br />
lobt ja daran oft gerade das, was den Detektiv eher scheitern ließe: die Kühnheit, Originalität<br />
<strong>und</strong> den kontra-intuitiven Charakter. Gerade ihre Unplausibilität relativ zum etablierten<br />
Wissen kann als Gütesiegel wissenschaftlicher Hypothesen gelten, während ein<br />
Detektiv damit alsbald scheitern würde. Richter, Anwälte <strong>und</strong> Schöffen führen ja sofort<br />
Meta-Abduktionen durch <strong>und</strong> prüfen dabei, wie plausibel diese Geschichte im Hinblick<br />
auf die allen bekannte Erfahrungswelt ist.<br />
Oft arbeitet der Nicht-Detektiv auch nicht im Auftrag <strong>und</strong> muß <strong>des</strong>halb nicht unbedingt<br />
Indizien <strong>und</strong> anderes Wissen für die termingerechte Aufklärung eines ganz bestimmten<br />
Ereignisses von hohem sozialen <strong>und</strong> juristischen Stellenwert beschaffen, sondern<br />
er will z.B. eher Indizien für die Geltung oder Nichtgeltung einer eigenen <strong>Theorie</strong><br />
finden. Oder er kann »frei« auf die Rätselhaftigkeit von Phänomenen anspringen, die im<br />
Lichte <strong>des</strong> üblichen wissenschaftlichen oder anderen Wissens eigentlich nicht zu erwarten<br />
waren oder schwer zu deuten sind. Schließlich kann er viel stärker einer Vorliebe<br />
für bestimmte Arten von Gegenständen frönen <strong>und</strong> zeigt dann, daß sie unerwarteterweise<br />
oder anders als vermutet als Zeichen <strong>und</strong> Indizien gelesen werden können.<br />
Kurz, er kann beim <strong>Spuren</strong>lesen für intellektuelle <strong>und</strong> ästhetische Reize empfänglicher<br />
sein, d.h. für Reize, die relativ unabhängig vom Wahrheitswert der Dekodierung<br />
oder unabhängig vom Wahrheitswert der spurendeutenden Geschichte sind. Solche Präferenzen<br />
können auf der materiellen Ebene, der Ebene der <strong>Spuren</strong>, oder auf der Ebene<br />
ihrer Entschlüsselung liegen, auf der Seite der Signifikanten oder auf der Seite der Signifikate.<br />
Im Hinblick auf die materielle Spur wird es sich vor allem um ästhetische<br />
Reize i.e.S., im Hinblick auf die <strong>Spuren</strong>deutung oft mehr um intellektuelle, also höchstens<br />
im weitesten Sinne ästhetische Reize handeln, z.B. um die Eleganz einer <strong>Spuren</strong>deutung<br />
(ihre zugleich formvollendete <strong>und</strong> überraschende Einfachheit), oder um ihre<br />
Verbindung mit allgemeinen, »großen« <strong>und</strong> faszinierenden welterschließenden Ideen<br />
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