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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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die ihrerseits als <strong>Spuren</strong> (Signifikanten historischer Zeichen) betrachtet werden können.<br />

Jede Spur wird so mit der Zeit ein vielschichtiges System von <strong>Spuren</strong>. 39<br />

Die Basis ist das Substrat der Marken. Sie ist das, was jeweils vom Original überlebt<br />

hat. Das Original im eigentlichen Sinne ist die Basis ohne Marken. In der Wirklichkeit<br />

gibt es aber keine Basis ohne Marken. Nur im Augenblick seiner Herstellung ist der Signifikant<br />

ohne Marken. Deshalb hat der Historiker oder <strong>Spuren</strong>leser auch niemals ein<br />

Original i.e.S. vor sich, sondern immer nur <strong>Spuren</strong> <strong>des</strong> Originals, d.h. »bases transformées<br />

par <strong>des</strong> marques« (durch Marken transformierte Basen).<br />

Das Original i.e.S. gewinnt man nur durch (meist fiktive, bloß gedankliche) »Rekonstitution«:<br />

Erstens, indem man die Basis von den Marken befreit (»dégager la base de<br />

ses marques«, »ablation <strong>des</strong> marques«); zweitens durch Wiederhinzufügen »erodierter«<br />

(oder »abgestorbener«) Teile (»compléter la base«). Kurz, die Marken wegnehmen <strong>und</strong><br />

die Basis komplettieren. 40<br />

Basis <strong>und</strong> Marken zusammen haben jeweils zwei Substrate (supports): Ein erstes<br />

Substrat (z.B. das Papier oder die Wand) <strong>und</strong> ein zweites Substrat (z.B. die Buchstaben,<br />

d.h. die Druckerschwärze oder die aufgesprühte Farbe). Das sind die »externen Elemente«<br />

der Spur; ihre »internen Elemente« sind die Merkmale <strong>des</strong> »Textes« selbst (bei<br />

einem Text im engeren Sinn z.B. Sprache, Lexikon, Syntax, Stil ...).<br />

Der <strong>Spuren</strong>leser muß der Spur aber nicht nur ihre Formgeschichte, sondern auch<br />

(durch Interpretation) ihre Bedeutungsgeschichte zurückgeben (vgl. wieder Abb. 8).<br />

Die »originären Bedeutungen« <strong>des</strong> Zeichens findet man durch Rekonstruktion seiner<br />

Genese, seiner Produktion <strong>und</strong> seiner Verwendungs- oder Funktionsweisen während<br />

der »originären« Zeit, d.h. der Produktionszeit <strong>des</strong> Zeichens. Dabei sei es nützlich, 1.<br />

Konzeptions-, 2. Realisierungs- (d.h. Herstellungs-) <strong>und</strong> 3. originäre Verwendungszeit/-<br />

Funktionszeit zu trennen, denn schon in diesem Zeitraum, d.h. beim Übergang von der<br />

39 »Marque« (laut Wörterbuch: Zeichen, An- <strong>und</strong> Kennzeichen, Merkmal, Marke, Stempel, Mal, Spur, Narbe...)<br />

ist vielleicht schon im Französischen kein sehr treffender Ausdruck für das, was in der »théorie de la<br />

trace« damit gemeint ist. Die Übersetzung mit »Marke«, »Markierung« ist jedenfalls noch schlechter; mir<br />

ist aber nichts Besseres eingefallen. In Anlehnung an den Ausdruck »grammat(olog)ische Struktur« für die<br />

physisch-materielle Struktur <strong>des</strong> Signifikanten könnte man zur Übersetzung von »marque« an Ausdrücke<br />

wie Engramm, Gramm, Graph, Graphem denken (die ursprünglich-etymologisch alle »Eingekerbtes, Eingeritztes,<br />

Zeichen, Schriftzeichen, Buchstabe, Schrift, Geschriebenes, Eingetragenes« bedeuten), aber alle<br />

Ausdrücke sind längst fest besetzt, <strong>und</strong> abweichende Neuverwendungen wären wohl verwirrend.<br />

40 Heute ist es Gr<strong>und</strong>satz <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>-, d.h. Denkmalschutzes, diese Operationen nicht real auszuführen, weil<br />

dadurch zuviel (manchmal sogar alle) wirkliche Geschichte zerstört wird (»konservieren, nicht restaurieren!«).<br />

Man bemüht sich meistens, nicht mehr wie früher das Original »freizulegen« <strong>und</strong> die Geschichte<br />

sozusagen »abzubeizen«. Dabei wurde es oft »ursprünglicher« <strong>und</strong> »echter« gemacht, als es je war, <strong>und</strong> es<br />

kam oft eine Art von Kopie eines imaginären Originals dabei heraus. Heute respektiert man neben den<br />

Resten <strong>des</strong> Originals (d.h. neben den übriggebliebenen Teilen der Basis <strong>des</strong> historischen Zeichens) auch<br />

die »Mark(ierung)en«, die sich im Lauf der Zeit auf ihm festgesetzt haben – leider meist nur die bis zum<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Im Naturschutz, der ja in Wirklichkeit fast immer ein Kultur(denkmal)schutz ist, vor allem<br />

in der Stadt, ist genau das aber noch lange nicht anerkannt; hier produziert man noch laufend imaginäre<br />

Originale, die nie existiert haben.<br />

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