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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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Dieser »Blick« ist nicht nur <strong>und</strong> nicht so sehr die Wahrnehmung eines Bil<strong>des</strong>, sondern<br />

mehr noch die Herstellung einer Beziehung, ist weniger ein Ziel <strong>und</strong> Ergebnis, auf<br />

das man zugegangen ist, als ein Ereignis, das einem unintendiert zustößt; dieses Geschehen<br />

wird dann aber doch nicht einfach als passiv erfahren, sondern auch als eine<br />

aktive Zuwendung <strong>und</strong> als ein erwartungsvoller, ja forschender <strong>und</strong> fordernder Blick.<br />

Es handelt sich um eine Erfahrung, die als befristet <strong>und</strong> extrem störbar erlebt wird, jedenfalls<br />

nicht ohne weiteres willkürlich festgehalten werden kann, <strong>und</strong> nicht selten hat<br />

sie auch ein Moment von Plötzlichkeit <strong>und</strong> Augenblicklichkeit.<br />

Man schaut wie auf ein fast unbekanntes Bekanntes, erstaunt <strong>und</strong> doch, als werde<br />

man auch an etwas erinnert; als hätte man ein noch unbestimmtes déjà vu-Erlebnis. Der<br />

Gegenstand <strong>und</strong> sein Hof sind in einem entroutinisierten Blick ganz präsent, gegenwärtiger<br />

als die alltägliche <strong>und</strong> auch gegenwärtiger als die vegetationsk<strong>und</strong>liche Oenothera<br />

(obwohl auch schon das vegetationsk<strong>und</strong>liche Hinsehen den Blick ent-routinisiert <strong>und</strong><br />

die Nachtkerze gegenwärtiger <strong>und</strong> bedeutungsvoller gemacht hat). Die Semantik der<br />

Nachtkerze <strong>und</strong> ihrer Umwelt ist unbestimmter, aber auch tiefer, gewichtiger <strong>und</strong> anrührender<br />

als zuvor. Man ist bei einer zugleich eindrucksvollen <strong>und</strong> vieldeutigunbestimmten<br />

Tiefensemantik angekommen. Diesen subsemantischen Bahnen entlang<br />

kann die Gegenstandsbedeutung im Tagtraum dann sogar narrativ werden, d.h. einen<br />

erzählbaren Inhalt bekommen.<br />

»Tagtraum« oder »Tagträumerei« ist hier in dem gleichen Sinn gebraucht, wie Bachelard<br />

»rêverie« benutzt: als eine gegenstandsbezogene Träumerei entlang einer latenten,<br />

aber in den semantischen Strukturen der Sprache oft weitgehend vorgegebenen<br />

Semantik, die freilich individuell angereichert oder verkürzt werden kann. Oft deuten<br />

schon Namengebungen <strong>und</strong> Konnotationen (sei es in einer bestimmten Sprache, sei es<br />

in getrennten Sprachen) potentielle, schon physiognomisch naheliegende Richtungen<br />

solcher Rêverien an. Neben »Nachtkerze«, »Nachtleuchte«, »Nachtblume«, »Nachtlicht«<br />

usw. stehen z.B. »Nachtrose« <strong>und</strong> »Nachviole« (<strong>und</strong> können die Konnotationen<br />

von »Rose« <strong>und</strong> »Viole«, z.B. deren Duft- <strong>und</strong> Liebesmetaphernzauber auf sich ziehen),<br />

aber auch ein Namenfeld »Schlafende Jungfrau«, »Nachtschöne«, »Schöne der<br />

Nacht«, »Nacktes Mädchen« sowie ein anders um »Totenblume«, »Totenlampe« u.ä.<br />

(vgl. Marzell, Bd. 3, 1977, Sp. 373ff.) Gegenüber anderen auffälligen Blumen ist die<br />

Oenothera aber – etwa im Gegensatz zu Rose <strong>und</strong> Veilchen – nicht von einer starken<br />

offiziellen Semantik besetzt; es bleibt also viel Raum für je-individuelle Semantisierungen<br />

<strong>und</strong> private Mythologien.<br />

2.13.3 Ein Abgr<strong>und</strong> ruft den andern<br />

Tagträumer sind selten bereit, ihre Rêverien (wie Traumerinnerungen) niederzuschreiben,<br />

<strong>und</strong> wenn, dann sind solche Niederschriften wahrscheinlich fast immer hochgradig<br />

gefiltert <strong>und</strong> bereinigt, <strong>und</strong> sie haben oft auch etwas von Trivialliteratur an sich (wenn<br />

man denn einen, hier eigentlich nicht angemessenen literarischen Maßstab anlegen<br />

will). Es sind Dokumente einer ästhetischen Erfahrung, aber sie haben nur selten literarischen<br />

Wert. »Ästhetisch« ist eben nicht gleichbedeutend mit »ästhetisch wertvoll«<br />

oder »ästhetisch gelungen«. Für wirkliche Literatur können Rêverien <strong>und</strong> ihre Niederschriften<br />

höchstens Rohmaterial sein. – So empfiehlt es sich, sich möglichst oft selber<br />

zur Versuchsperson zu machen. Die folgende Oenothera-Rêverie stammt von einer jun-<br />

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