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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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2.14.3 Die Moral von der Geschichte<br />

Die umrißhaft zitierte Detektiv-Erzählung war geeignet, Anfang <strong>und</strong> Ende der Erläuterungen<br />

zum <strong>Spuren</strong>lesen miteinander zu verknüpfen: Sie beschreibt fast all das, was bei<br />

Monsieur Lecoq (den wir anfangs zitierten) <strong>und</strong> vielen anderen idealen <strong>Spuren</strong>lesern als<br />

glänzender Vorzug erscheint, einmal eindrucksvoll als Gefahr <strong>und</strong> Warnung: z.B. seinen<br />

entroutinisierten Blick, seine Abneigung gegen triviale Lesarten, seine Liebe zu<br />

originellen, ja virtuosen Kodierungen, seine Präferenzen für umfassende, tiefe, elegante,<br />

eindrucksvolle <strong>und</strong> ich-nahe Lösungen, seine Sensibilität für die vor- <strong>und</strong> außerwissenschaftlichen<br />

Reize von Gegenständen <strong>und</strong> Erzählungen, überhaupt das Unzünftige,<br />

Bohémien- <strong>und</strong> Outsiderhafte seines Denkens.<br />

Die Moral von der Geschichte habe ich schon in die kurze Nacherzählung <strong>und</strong> in die<br />

Kommentare wenigstens andeutend eingestreut. Es schadet aber sicher nicht, noch einen<br />

zusammenfassenden <strong>und</strong> verallgemeinernden Klartext hinzuzufügen.<br />

Warum überhaupt so viel Erörterungen über die ästhetische Dimension <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesens<br />

<strong>und</strong> zuletzt noch eine Erzählung dazu? Um es noch einmal zu sagen: Wenn man<br />

sieht, daß die ästhetische Erfahrung (nicht nur beim <strong>Spuren</strong>lesen, sondern bei jedem<br />

intellektuellen Unternehmen) ohnehin immer schon mitläuft, daß der ästhetische Gegenstandsbezug<br />

auch hier (wie fast immer) dem epistemischen Gegenstandsbezug vorausgeht,<br />

ihn begleitet, sich dabei sogar fortlaufend regeneriert <strong>und</strong> sowohl in der glücklichen<br />

Vollendung wie sogar im endgültigen Scheitern einer epistemischen Erfahrung<br />

ihren Höhepunkt erreichen kann, dann kommen auch der Wissenschaftstheoretiker <strong>und</strong><br />

Didaktiker um das Thema nicht mehr herum <strong>und</strong> müssen sich dem Problem stellen, wie<br />

beide Erfahrungsweisen immer wieder in ein sinnvolles <strong>und</strong> sogar fruchtbares Verhältnis<br />

gesetzt werden können.<br />

Die geographische Parallele ist auch hier wieder lehrreich. Für die deutschen Geographen<br />

<strong>des</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts war Landschaft nicht nur ein <strong>Spuren</strong>gelände, sondern lange<br />

Zeit auch insgesamt eine Spur: Visuelle Spur einer systemaren Einheit <strong>und</strong> Ganzheit,<br />

eines großen Ökosystems (<strong>und</strong> sogar Symbol der Einheit <strong>und</strong> Ganzheit der Geographie<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong> geographischen Denkens). Das haben die Geographen sinngemäß auch so formuliert,<br />

<strong>und</strong> manche tun es noch heute. Sie haben die Spur, ihre Spur, als Ausdruck<br />

oder Ergebnis phantastischer Geschichten gelesen. Diese Geschichten waren ihrerseits<br />

viel älter als die Landschaft; vor allem die Schlüsselgeschichte vom landschaftlichen<br />

Geoökosystem war weit über zwei Jahrtausende lang so oder ähnlich auch schon vom<br />

Kosmos oder vom Universum erzählt worden (vgl. Hard 1969, 1988).<br />

Von der Landschaft kann man sagen, daß sie für die deutschen Geographen <strong>des</strong> 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts – wie das Feuer für die Naturwissenschaftler <strong>des</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>erts – ein<br />

Phänomen gewesen ist, »bei dem die objektive Haltung sich niemals hat realisieren lassen,<br />

bei dem die erste Verführung so endgültig ist, daß sie noch die gera<strong>des</strong>ten Geister<br />

umbiegt <strong>und</strong> sie immer wieder in den Schoß der Poesie zurückträgt, in dem die Träumereien<br />

das Denken ersetzen <strong>und</strong> die Gedichte die Theoreme verbergen« (Bachelard 1959,<br />

S. 10). Das Problem ist, daß jede Spur eines illuminierten <strong>Spuren</strong>lesers (wie jeder Gegenstand<br />

je<strong>des</strong> begeisterten Wissenschaftlers) die Tendenz hat, sich in eine Landschaft<br />

zu verwandeln, in der alles enthalten ist <strong>und</strong> aus der alles herausgelesen werden kann.<br />

Jede reizvolle Spur – <strong>und</strong> die <strong>Spuren</strong> <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesers sind fast immer reizvoll für<br />

ihn oder werden es doch während ihrer Betrachtung – verbindet sich also leicht mit ei-<br />

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