Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium
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»Für das nächste Mal, daß ich sie töte«, antwortete Scharlach, »verspreche ich<br />
Ihnen dieses Labyrinth, das aus einer einzigen geraden Linie besteht, <strong>und</strong> das unsichtbar,<br />
unaufhörlich ist.«<br />
Er trat einige Schritte zurück. Dann, sehr sorgfältig, feuerte er. (Borges, Fiktiones,<br />
S. 130)<br />
Spätestens an dieser Stelle, wenn die beiden sich im Showdown als Melancholiker <strong>und</strong><br />
Ironiker gegenüberstehen, muß den Leser der Verdacht beschleichen, daß auch die<br />
Doppelheit Scharlach-Lönnrot zu den ästhetischen Verdopplungen der Villa Triste-le-<br />
Roy (<strong>und</strong> dieser ganzen Erzählung) gehört, daß also beide, der Töter <strong>und</strong> der Getötete,<br />
der <strong>Spuren</strong>leser <strong>und</strong> der Beobachter <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesers, nur eine Person sind. Und so will<br />
es Borges auch gelesen wissen. 82<br />
Gleich zu Beginn der Erzählung heißt es: »Lönnrot hielt sich für einen reinen Logiker<br />
(...), hatte aber etwas von einem Abenteurer <strong>und</strong> sogar Spieler«. Spieler <strong>und</strong> Abenteurer<br />
sind die lebensweltlichen Prototypen ästhetischen Umgangs mit der Welt: Leute,<br />
die mit immer unbefriedigtem Auge im nie ganz befriedigendem Anwesenden immer<br />
noch das befriedigendere, schönere, exotischere, unwahrscheinlichere Abwesende suchen<br />
(<strong>und</strong> vor allem hinter dem Schleier der Ungewißheit eben jene Reize, die die<br />
Wirklichkeit nie hergeben kann). Das hält sie in Bewegung <strong>und</strong> schützt sie vor der tödlichen<br />
Desillusionierung. Lönnrot hingegen ist ein intellektueller Spieler <strong>und</strong> Abenteurer,<br />
ein Spieler <strong>und</strong> Abenteurer zweiter Potenz, der seine Spiele <strong>und</strong> Abenteuer aus einer<br />
Bibliothek entnommen hat (eine typische Borges-Figur). Deshalb taugt dieser Ästhet<br />
<strong>und</strong> ästhetische Historist so gut zu einer Allegorie <strong>des</strong> ästhetisierenden <strong>Spuren</strong>suchers<br />
<strong>und</strong> Wissenschaftlers.<br />
2.14.2 »Abduktion in Uqbar«<br />
Die Ideen <strong>und</strong> Handlungen Lönnrots kann man schließlich auch so interpretieren, daß<br />
hier eine Philosophie gelebt <strong>und</strong> ein philosophisches Bedürfnis ausgelebt wird (die ihrerseits<br />
allerdings wieder als eine <strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong> ein ästhetisches Bedürfnis gedeutet werden<br />
können): Der Wunsch nach einer Welt, in der die Idee <strong>und</strong> der Geist über die Empirie<br />
triumphieren. Das ist der Wunsch nach einer monistischen Welt, wo Abduktionen<br />
(Hypothesen, »kühne <strong>und</strong> schöne Ideen«) nicht so sehr an einer prinzipiell widerständigen<br />
»äußeren Wirklichkeit« geprüft werden, sondern vor allem daran, ob sie sich in eine<br />
Ideen- <strong>und</strong> Gedankenwelt (als die »wahre Wirklichkeit«) einpassen; kurz, ob sie<br />
»dem Geiste angenehm sind«. Dies ist auch die eigentliche Quelle für die Verdrängung<br />
der Korrespondenz- durch die Kohärenztheorie der Wahrheit im Denken <strong>des</strong> phantastischen<br />
Detektivs. Die Wahrheit liegt dann nicht darin, daß etwas zur Wirklichkeit paßt,<br />
sondern darin, ob etwas zu einer schönen Geschichte paßt – also nicht in der Heteroreferenz,<br />
sondern in der Autoreferenz einer Idee.<br />
82 Vgl.: »Der Töter <strong>und</strong> der Getötete, deren Hirne gleichartig arbeiten, könnten derselbe Mensch sein. Lönnrot<br />
ist kein hoffnungsloser Trottel, der in eine To<strong>des</strong>falle spaziert, sondern auf symbolische Weise ein<br />
Mann, der Selbstmord begeht«; J.L. Borges, zit. nach den »Anmerkungen« in der Fischer-Taschenbuchausgabe<br />
der »Fiktionen« (Frankfurt a.M. 1994, S. 183).<br />
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