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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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Ruderalgesellschaften auch nur einigermaßen naturgetreu zu simulieren. Die Produkte<br />

sehen durchweg sehr mickrig <strong>und</strong> verfremdet aus.<br />

Aus dem Gesagten kann man folgern, daß oft auch Prognosen besser <strong>und</strong> praktischer<br />

»von oben nach unten« als auf der unteren Ebene allein formuliert werden. Wenn man<br />

zum Beispiel um 1970-80 gefragt worden wäre, wo man in einer nordwestdeutschen<br />

Stadt Hordeum murinum suchen soll, dann hätte man am besten in Termini einer<br />

alltagssprachlichen Stadtgeographie geantwortet, zum Beispiel: »Gründerzeitliche<br />

Arbeiterwohnquartiere mit hohem Ausländeranteil« oder auch: »Innerstädtische <strong>und</strong><br />

innenstadtnahe Sanierungserwartungsquartiere.« Jede verfügbare strikt naturwissenschaftliche<br />

Antwort wäre schlechter gewesen, es sei denn, der Fragende hätte die<br />

ökologische Antwort stillschweigend wieder in eine mehr oder weniger alltagssprachliche<br />

Stadtbeschreibung zurückübersetzt. (Inzwischen hat sich die soziale Bedeutung<br />

dieser »Spur«, d.h. der soziale Kontext <strong>des</strong> Auftretens von Hordeum murinum drastisch<br />

verändert, aber darauf kommt es jetzt nicht an.)<br />

Das gilt alles auch dann, wenn man die ungenau bekannten ökologischen Bedingungen<br />

in irgendwelche Hilfskonstruktionen übersetzt. Man stelle sich vor, der Befragte<br />

hätte bei der Antwort auf die Frage, wo in der Stadt er die Mäusegerste suchen müsse,<br />

auf die bestverfügbare Literatur über die ökologischen Existenzbedingungen von<br />

Hordeum murinum <strong>und</strong> Hordeetum murini zurückgegriffen. Dann hätte die Antwort so<br />

lauten können: »Sie müssen Hordeum murinum suchen, wo folgende Bedingungen gegeben<br />

sind: Lichtzahl L gleich 8, Temperaturzahl T gleich 7, Feuchtezahl F gleich 4,<br />

Stickstoffzahl N gleich 6 (vgl. Ellenberg 1979, 74). Oder in Worten: Hordeum murinum<br />

ist eine Lichtpflanze, ein Wärmezeiger, halb Trocknis-, halb Frischezeiger <strong>und</strong> wächst<br />

auf Standorten, die ökologisch zwischen den mäßig stickstoffreichen <strong>und</strong> den stickstoffreichen<br />

Standorten liegen (vgl. Ellenberg 1979, 39ff.). Was das Hordeetum angeht, so<br />

müssen Sie die Stellen ausfindig machen, wo T=6,4, L=7.3, F=4.5 <strong>und</strong> N=6.5 ist (vgl.<br />

Tullmann <strong>und</strong> Böttcher 1983, 493); wenn Sie es in der Ausbildung mit Bromus sterilis<br />

haben wollen, dann sehen Sie bei T=6.7, L=7.6, F=4.0 <strong>und</strong> N=5.1 nach (ebd.). Nach<br />

anderen Autoren haben Sie die besten Chancen, ein Hordeetum zu finden, bei T=6.0,<br />

L=7.4, F=4.3 <strong>und</strong> N=6.1 (vgl. Böcker, Kowarik <strong>und</strong> Bornkamm 1983, 39).«<br />

Hordeum murinum <strong>und</strong> Hordeetum murini sind aufgr<strong>und</strong> solcher Angaben schon<br />

<strong>des</strong>halb kaum aufzufinden, weil man mit ihnen zwar durchaus Wenn-Dann-Aussagen<br />

(»Gesetzmäßigkeiten«) formulieren kann (etwa so: »Wenn diese <strong>und</strong> diese Standortbedingungen,<br />

dann Hordeum bzw. Hordeetum«). Aber selbst wenn diese Wenn-dann-<br />

Aussagen richtig wären, wüßten wir auf unserem Gang durch die Stadt nicht, wo die<br />

Wenn-Aussagen erfüllt sind. Kurz, die Antezedenzbedingungen sind kaum auszumachen.<br />

Außerdem lassen die ökologischen Angaben gerade das Entscheidende aus: Vor<br />

allem sagen sie nichts über die ganz bestimmten Eingriffe <strong>und</strong> den ganz bestimmten<br />

»mittleren« Störungsgrad, die die Art <strong>und</strong> ihre Gesellschaft vor der Konkurrenz schützen<br />

<strong>und</strong> stabilisieren, weil diese Störungen durch Pflege sowohl eine regressive wie eine<br />

progressive Sukzession verhindern. Und eben diesen entscheidenden Faktor (die zugehörigen<br />

Pflegemaßnahmen <strong>und</strong> Pflegeroutinen) kann man am leichtesten (<strong>und</strong> oft sogar<br />

nur) alltagsweltlich erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> alltagssprachlich formulieren.<br />

Natürlich kann man dann fragen, was diese Maßnahmen ökophysiologisch bedeuten.<br />

Hätte man aber nur eine ökophysiologische Beschreibung, müßte man sie in die All-<br />

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