06.12.2012 Aufrufe

Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Nicht zuletzt hat das Beispiel gezeigt, daß es sich lohnt, wenn <strong>Spuren</strong>leser wechselseitig<br />

ihrem <strong>Spuren</strong>lesen, d.h. der Geschichte ihrer Themen- <strong>und</strong> <strong>Spuren</strong>(er)findung nachspüren.<br />

<strong>Spuren</strong>(sicherungen) erweisen sich auf diese Weise nicht selten auch als <strong>Spuren</strong> eines<br />

biographisch gewachsenen, zuweilen sehr subjektiven <strong>und</strong> intimen Engagements,<br />

eines »personal knowledge« (Polanyi 1958, 1966).<br />

Bevor man Interviewtexte wie den zitierten heranzieht, sollte man aber nicht nur die<br />

Zustimmung <strong>des</strong> Interviewten einholen, sondern auch noch einiges andere bedenken:<br />

Zum Beispiel, daß die persönlichen <strong>und</strong> intimen Komponenten <strong>und</strong> Voraussetzungen<br />

von den anderen Beteiligten oft unmittelbarer <strong>und</strong> schneller wahrgenommen werden als<br />

von dem Betroffenen selber – <strong>und</strong> daß eben dies den Betroffenen unter Umständen in<br />

eine unangenehme Situation bringt. Das folgt schon aus den unterschiedlichen Positionen<br />

von Beobachtern 1. <strong>und</strong> 2. Gra<strong>des</strong>; überdies handelt der idiosynkratische <strong>Spuren</strong>leser<br />

wohl nicht selten aus einer unbefangenen <strong>und</strong> ihm selber nur sehr unvollkommenen<br />

bewußten Unangepaßtheit heraus.<br />

Normalunterricht an Schule <strong>und</strong> Hochschule findet – wie im übrigen auch die normale<br />

Wissenschaft – oft in einem Denk- <strong>und</strong> Handlungsraum statt, wo Subjekte, Methoden<br />

<strong>und</strong> Gegenstände so aufeinander abgerichtet werden, bis sie miteinander in einer<br />

gut funktionierenden »prästabilierten Harmonie« zu stehen scheinen. Die Subjekte <strong>und</strong><br />

Gegenstände (<strong>und</strong> ähnlich die Methoden) sind von ihrer konkreten Existenz <strong>und</strong> Biographie<br />

weitgehend gereinigt, <strong>und</strong> der Lern- <strong>und</strong> Arbeitsprozeß ist dergestalt gegen<br />

Einbrüche von Individuellem <strong>und</strong> Kontingentem weitgehend abgedichtet. (Vgl. hierzu<br />

<strong>und</strong> zum Folgenden z.B. Rumpf 1986.) Auf höheren Schulstufen <strong>und</strong> an der Universität<br />

handelt es sich (ähnlich wie im normalen Wissenschaftsbetrieb) um eine mehr oder weniger<br />

automatisch erzeugte Selbstreduktion <strong>und</strong> Selbstbereinigung auf ein abstraktes<br />

Schüler-, Studenten- <strong>und</strong> Wissenschaftlersubjekt hin, die mit mehr oder weniger vorgegebenen<br />

Methoden an mehr oder weniger vorkonstituierten Gegenständen arbeiten (im<br />

Extremfall z.B. nach der Methode von Braun-Blanquet an Pflanzengesellschaften <strong>des</strong><br />

Systems von Braun-Blanquet).<br />

Der Schüler oder Student, der mit der genannten »unbefangenen Unangepaßtheit« an<br />

die Welt der Unterrichts- <strong>und</strong> Untersuchungsgegenstände herangeht, entkommt zwar<br />

bis zu einem gewissen Grade den Verdinglichungen <strong>des</strong> Normalunterrichts (er minimiert<br />

sozusagen Entfremdung durch Fremdgehen); aber er entgeht dabei oft kaum dem<br />

Verdacht seiner Lehrer, Mitschüler <strong>und</strong> Mitstudenten, allzusehr seinen privaten Ticks,<br />

Rêverien <strong>und</strong> Obsessionen (kurz, seiner »Seele«) zu folgen, ja ihnen ausgeliefert zu<br />

sein. Das kann ihn im beschriebenen Denkraum <strong>des</strong> Normalunterrichts (wie auch im<br />

Denkraum der Normalwissenschaft) mißverständlich bis konkurrenzunfähig werden<br />

lassen, denn er riskiert natürlich andauernd Niederlagen gegen (im beschriebenen Sinn)<br />

besser funktionierende Rivalen, <strong>und</strong> nicht jeder dieser Fremdgeher hat die Chance, sie<br />

(die »Normalen«) wenigstens im nachhinein – auf seine Weise <strong>und</strong> mit seinen devianten<br />

Mitteln – zu überflügeln. Außerdem bewegt sich nicht jeder Idiosynkratiker auf<br />

gleichem Niveau, <strong>und</strong> überhaupt ist fruchtbarer Eigensinn nicht immer leicht von Unfähigkeit<br />

<strong>und</strong> ähnlichem zu unterscheiden. Die Analogien zum Wissenschaftsbetrieb liegen<br />

auf der Hand.<br />

Jedenfalls habe ich die Erfahrung gemacht, daß <strong>Spuren</strong>lesen nicht nur geeignet ist,<br />

dem Lehrer <strong>und</strong> Hochschullehrer solche Existenzen <strong>und</strong> ihre oft hochinteressante idio-<br />

181

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!