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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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äußere Transzendenz <strong>und</strong> die innere »trans<strong>des</strong>cendance« (Bachelard) bespiegeln einander<br />

<strong>und</strong> werden identisch.<br />

Solche Niederschriften von Rêverien belegen gemeinhin auch, daß in ästhetischen<br />

Wahrnehmungen dieser Art eine Art von gefährdetem <strong>und</strong> gefährlichem Glücksversprechen<br />

mitschwingt, ein thrill, der zuweilen nicht mehr weit vom Schrecken entfernt<br />

ist. Hinzukommt aber oft auch eine Aussicht auf eine Art magischer Beherrschung der<br />

Welt, die, wenn man von der ästhetischen Färbung der Situation absieht, als eine Art<br />

von Verrücktheit erscheinen müßte.<br />

Die in der ästhetischen Erfahrung mitgegebenen Glücksversprechen (<strong>und</strong> das oft<br />

daran geknüpfte Versprechen großer Magie) sind aber zugleich überaus zerbrechlich.<br />

Jede genaue Beschreibung dieser Erfahrung läßt das erkennen: Wenn der tagträumerische<br />

oder kontemplative Blick forschender <strong>und</strong> fordernder wird, wenn er näher an seinen<br />

Gegenstand – z.B. an die Oenotherablüte in der Dämmerung – herangeht <strong>und</strong> (um<br />

einen Ausdruck Husserls zu gebrauchen) in den positionalen Bewußtseinsmodus überzugehen<br />

versucht, scheint sich der Gegenstand zu entziehen; der Kontakt- <strong>und</strong> Verwirklichungswunsch<br />

bleibt wie ungesättigt <strong>und</strong> enttäuscht zurück, so als wäre mehr<br />

versprochen gewesen <strong>und</strong> nun nicht gehalten worden. Es ist wie eine Offenbarung, die<br />

dann doch nicht stattfindet. Die reale (auch die botanische) Oenothera, die dann von der<br />

Tagtraum-Oenothera übrig bleibt, ist immer wenigstens eine leise Enttäuschung. Die<br />

»einmalige Erscheinung einer Ferne«, die momentan so nah zu sein schien, hat sich<br />

wieder in eine unbestimmte Ferne verflüchtigt, <strong>und</strong> nur die alltägliche <strong>und</strong> die vegetationsk<strong>und</strong>liche<br />

Oenothera sind noch – enttäuschend – da.<br />

Das alles hängt, semiotisch gesprochen, damit zusammen, daß der ästhetische<br />

Gegenstand (wie auch das Kunstwerk) ein Zeichen ist, d.h. auf etwas verweist, was er<br />

selber nicht ist, auch wenn er einiges von dem, worauf er verweist, verkörpern, d.h.<br />

direkt oder metaphorisch exemplifizieren mag. »Die Befriedigung«, konstatiert nüchtern<br />

der Semiotiker (Morris 1979, S. 272), »ist (in der ästhetischen Erfahrung) nicht<br />

vollständig, da sie nur durch Zeichen vermittelt ist«. Als Ganzes bleibt der ästhetische<br />

Gegenstand (wie sein moderner Prototyp, das Kunstwerk) trotz aller »ikonischen«<br />

Anteile doch immer ein Zeichen. Und wie nichts von sich aus ein Zeichen ist, aber alles<br />

ein Zeichen werden kann, so steht es auch mit dem ästhetischen Zeichen oder dem<br />

ästhetischen Gegenstand: Sie existieren nur in der tendentiell kurzlebigen, ja plötzlichen<br />

<strong>und</strong> außerhalb der Profanzeit liegenden ästhetischen Erfahrung <strong>und</strong> verschwinden mit<br />

ihr. Anders gesagt, auch das ästhetische Symbol kann nie die volle Bedeutung <strong>und</strong><br />

Leistung <strong>des</strong> Symbolisierten übernehmen – wenn der Tagträumer das glaubte, würde<br />

man ihn mit Recht für verrückt halten. Der Landschaftsgarten <strong>und</strong> sein Requisit sind in<br />

gewissem Sinne wirklich Arkadien – der saftige Weiderasen z.B. ist wirklich da: Aber<br />

ein Schäferleben kann man hier trotzdem nicht führen; die Oenothera ist zwar in<br />

gewissem Sinne wirklich eine »Schöne der Nacht«, aber sie wird als solche den<br />

ästhetischen Moment nicht überleben. Außerhalb dieses Momentes selber kann man nur<br />

feststellen, daß diese Schöne höchstens eine metaphorische Exemplifikation einer<br />

schönen Frau gewesen ist.<br />

Das scheint auch eine Gr<strong>und</strong>erfahrung bei der wissenschaftlichen Arbeit zu sein,<br />

zumin<strong>des</strong>t in manchen Gegenstandsbereichen. Der Vegetationsk<strong>und</strong>ler ist primär von<br />

seinem Gegenstand angetan (etwa vom Dauco-Melilotion auf einem ruinösen Werks-<br />

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