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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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senschaft« (v. Engelhardt <strong>und</strong> Zimmermann 1982) entnehme, nämlich C.T. Klootwijks<br />

Arbeit über »The drift of the Indian subcontinent, an interpretation of recent palaeomangnetic<br />

data« (Geologische R<strong>und</strong>schau 65, 1976, S. 885ff.).<br />

Zwar kann man auch diese Arbeit so interpretieren, daß auch hier erdgeschichtliche<br />

<strong>Spuren</strong> auf eine abduktiv-narrative Weise interpretiert werden. Als »<strong>Spuren</strong>« fungieren<br />

bestimmte, über Indien hin zerstreute Gesteine (»Gesteinsproben«), genauer besehen<br />

aber vor allem ihre magnetischen Eigenschaften. Wie auch sonst beim <strong>Spuren</strong>lesen wird<br />

jeder Spur eine Geschichte zugeschrieben, aber diese Geschichten sind nicht sehr individuell,<br />

sondern sozusagen Varianten einer Einheitsgeschichte. Es geht sichtlich gar<br />

nicht um die Gesteine selber, ihre Eigenschaften <strong>und</strong> ihre Geschichten; es geht aber<br />

auch nicht um die <strong>Theorie</strong>n, mit deren Hilfe ihre Geschichte rekonstruiert wird, denn<br />

diese <strong>Theorie</strong>n (z.B. die <strong>Theorie</strong> <strong>des</strong> Erdmagnetismus <strong>und</strong> die <strong>Theorie</strong>n der Gesteinsgenese)<br />

werden einfach als richtig vorausgesetzt. An den »<strong>Spuren</strong>« interessiert nur noch,<br />

wie sie zur Zeit ihrer Entstehung zum erdmagnetischen Pol lagen, <strong>und</strong> dies wiederum<br />

interessiert nur, weil daraus etwas für die Driftbewegung <strong>des</strong> indischen Subkontinents<br />

seit dem Perm folgt. Es geht eigentlich nicht mehr um Geschichten singulärer <strong>Spuren</strong>,<br />

sondern um eine ganz andere, viel größere Sache, Geschichte oder <strong>Theorie</strong>, die sich ihrerseits<br />

im Rahmen der <strong>Theorie</strong> der Plattentektonik abspielt, dieser wohl umfassendsten<br />

<strong>Theorie</strong> der Geowissenschaften. Deshalb sind die erdgeschichtlichen »<strong>Spuren</strong>« ja auch<br />

von vornherein nicht aufgr<strong>und</strong> eines <strong>Spuren</strong>interesses i.e.S., sondern am Leitfaden eines<br />

übergeordneten theoretischen Interesses, einer komplexen hypothetischen Erwartung<br />

ausgewählt worden.<br />

Die Freiräume, Wahlfreiheiten <strong>und</strong> idiosynkratischen Wahlen <strong>des</strong> »<strong>Spuren</strong>lesers«<br />

werden auf diese Weise zwar nicht von praktischen Problemen <strong>und</strong> Aufträgen, aber von<br />

disziplinären Problemlagen, Erwartungen <strong>und</strong> Paradigmen aufgesogen. Der Wissenschaftler<br />

hat dann fast nur noch die Möglichkeit, seine primären persönlichen <strong>und</strong> ästhetischen<br />

Interessen auf Disziplinäres (z.B. wissenschaftliche <strong>Theorie</strong>n) zu verlagern<br />

<strong>und</strong> nun in der disziplinären Welt <strong>und</strong> an deren Gegenständen sek<strong>und</strong>äre persönliche<br />

Präferenzen <strong>und</strong> ästhetische Wahrnehmungen auszubilden. Diese »sek<strong>und</strong>äre« <strong>Ästhetik</strong><br />

wissenschaftlicher bzw. disziplinärer Gegenstände richtet sich dann also nicht mehr auf<br />

»primäre«, im weitesten Sinne lebensweltliche Inhalte <strong>und</strong> Strukturen, die in einem hohen<br />

Maße schon vor- <strong>und</strong> außerwissenschaftlich vorhanden sind, sondern auf Inhalte<br />

<strong>und</strong> Strukturen, die erst in der Wissenschaft selber, also nach der »rupture épistémologique«<br />

(Bachelard) konstituiert wurden. Von dieser sek<strong>und</strong>ären <strong>Ästhetik</strong> wissenschaftlichen<br />

Handelns <strong>und</strong> Erlebens ist in diesem Essay über das <strong>Spuren</strong>lesen allerdings nur<br />

beiläufig die Rede.<br />

2.11 »Selbstreferenz« beim <strong>Spuren</strong>lesen<br />

Was kann sinnvollerweise gemeint sein, wenn man sagt, <strong>Spuren</strong>lesen müsse selbstreferentiell<br />

(selbstbezüglich) werden, wenn seine intellektuellen <strong>und</strong> didaktischen Möglichkeiten<br />

ausgeschöpft werden sollen?<br />

Beim direkten <strong>Spuren</strong>lesen sind die Spur <strong>und</strong> ihre Entstehungsgeschichte selber der<br />

Gegenstand. Dieses <strong>Spuren</strong>lesen im üblichen <strong>und</strong> schlichten Sinn kann man als »<strong>Spuren</strong>lesen<br />

auf der Objektebene« bezeichnen. Dieses einfache <strong>und</strong>, wenn man so will, naive<br />

<strong>Spuren</strong>lesen, das sich einfach in die Welt hineinarbeitet, kann auf mehrfache Weise<br />

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