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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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(was man auch die »Tiefe« einer Interpretation nennen könnte). 66 Zu diesen Reizen<br />

können z.B. auch die überraschende Bestätigung einer ausgefallenen, noch nicht akzeptierten<br />

Idee <strong>und</strong> die überraschende Infragestellung einer allgemein anerkannten <strong>Theorie</strong><br />

gehören.<br />

»Ästhetisch reizvoll« oder »ästhetisch attraktiv« nennen wir in erster Annäherung all<br />

das, was, bewußt oder nicht, auch noch als ein Stück Innenwelt in der Außenwelt gelesen<br />

werden kann. Mehr noch als die »Eleganz« <strong>und</strong> die »Tiefe« ist also wohl oft die zufällige<br />

»Ich-Nähe« eines problemlösenden, theoretischen oder narrativen Textes sein<br />

wirkungsvollster ästhetischer Reiz. Das ist z.B. der Fall, wenn ein solcher Text ex- oder<br />

implizit mit subjektiven Bedeutungen zweitkodiert werden kann, wenn also etwa die<br />

objektive Geschichte der Spur (ihr Signifikat) unter der Hand auch als eine subjektiv<br />

bedeutungsvolle Geschichte, als eine Subjektgeschichte oder als Metapher einer Psychodynamik<br />

gelesen werden kann.<br />

Daraus folgt: Im Gegensatz zum Detektiv hat der Wissenschaftler – <strong>und</strong> natürlich<br />

auch der Schüler <strong>und</strong> Lehrer – als <strong>Spuren</strong>leser <strong>und</strong> Indizienwissenschaftler auf mehreren<br />

Ebenen mehr persönliche Wahlmöglichkeiten. Diese Spielräume lassen dann nicht<br />

nur mehr intellektuelle Wahlen zu, sondern erlauben auch andere, im üblichen Sinn<br />

emotionale <strong>und</strong> ästhetische, oft sehr persönliche Präferenzen. Schon <strong>des</strong>halb muß man<br />

<strong>Spuren</strong> <strong>und</strong> <strong>Spuren</strong>lesen, überhaupt indizienwissenschaftliches Vorgehen, auch als ästhetisches<br />

Phänomen betrachten. Dafür gibt es aber sicher auch noch andere Gründe.<br />

Der »entlastete« <strong>Spuren</strong>leser kann sich auch ausgefallene Meta-Abduktionen <strong>und</strong><br />

andere sehr persönliche Reflexionen leisten, z.B. darüber nachdenken, was ihn an bestimmten<br />

<strong>Spuren</strong> fasziniert, warum er sich gerade mit solchen <strong>Spuren</strong> beschäftigt oder<br />

warum er sie gerade auf diese Weise liest. Er kann also auch zum Hermeneutiker in eigener<br />

Sache, anders gesagt: er kann – in einem weiten Sinne – selbstreferentiell werden.<br />

Man kann allerdings nicht übersehen, daß heute auch das wissenschaftliche <strong>Spuren</strong>lesen<br />

durchweg sehr stark »geb<strong>und</strong>en« <strong>und</strong> »beauftragt« ist, wenn auch auf etwas andere<br />

Weise als im erwähnten detektivischen Fall. Das gilt auch für Disziplinen, die von<br />

Hause aus in hohem Grade »spurenlesende Wissenschaften« sind, z.B. die historische<br />

Geologie.<br />

Sicher gibt es auch hier noch Forschungsgänge, die auch im Detail nach der »Théorie<br />

de la trace« rekonstruiert werden können, nicht weniger, als wir dies in Kapitel 2.8<br />

an einem »Mäusegersterasen« exemplifiziert haben. Als Beispiel kann z.B. eine Arbeit<br />

66 <strong>Zur</strong> »Eleganz« gehört wohl auch, daß der Arbeitsaspekt verborgen <strong>und</strong> leichthändiges Gelingen suggeriert<br />

wird; mit anderen Worten, ein schöner Schein von Unangestrengtheit, Leichthändigkeit <strong>und</strong> Sicherheit <strong>des</strong><br />

Vortrags, der, in sich selbst ohne jede Wahrheitsgarantie, doch die subjektive Evidenz <strong>des</strong> Vorgetragenen<br />

beträchtlich zu erhöhen vermag. (Vgl. dazu die hübsche Glosse von Ritter 1994, S. 5.) Wenn Wissenschaft,<br />

wie es heißt, die Welt entzaubert, dann betreibt sie also auch – über ihre systemeigene <strong>Ästhetik</strong> <strong>und</strong><br />

Kryptoästhetik, zu der auch ihre Rhetorik gehört – die Wiederverzauberung der Welt.<br />

<strong>Zur</strong> »Tiefe« einer <strong>Theorie</strong> oder Narration gehört sicher, daß sie nach Inhalt oder Struktur durch viele <strong>Theorie</strong>n<br />

<strong>und</strong> Narrationen (als deren Tiefensemantik oder Tiefenstruktur) hindurchzugehen scheint <strong>und</strong> eben<br />

<strong>des</strong>halb (oder aus anderen Gründen) hohen Aufschlußwert in vielen bedeutsamen Problemsituationen hat<br />

oder verspricht. Im Extremfall ist die in diesem Sinne »schönste« <strong>Theorie</strong> die wissenschaftlich wertloseste:<br />

als »the all-encompassing theory which can never be falsified«.<br />

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