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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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Wie könnte man sich sonst – ohne diese »Energetik <strong>des</strong> Blicks« <strong>und</strong> seine ästhetischen<br />

Erfahrungen – die Ruhelosigkeit mancher Reisenden, der Abenteurer, <strong>des</strong> Don<br />

Juan, aber eben auch vieler Wissenschaftler erklären? Sie sind die prototypischen<br />

Belege dafür, daß auch in vordergründig zweckrationalem <strong>und</strong> wissenschaftlichem<br />

Handeln immer auch noch »phantasmatische Aspirationen« (Boesch) <strong>und</strong> ästhetische<br />

Suchaktionen enthalten sind.<br />

Zweitens: Zwar ist die Trennung von wissenschaftlicher <strong>und</strong> ästhetischer Erfahrung,<br />

von Objektivierung <strong>und</strong> Tagträumerei, von objektiv-szientifischer <strong>und</strong> intimbedeutungsschwerer<br />

Welt heute institutionell vorgegeben. Der Tagträumer im Schüler,<br />

Studenten <strong>und</strong> Wissenschaftler wird heute schon durch die methodischen <strong>und</strong> institutionellen<br />

Regelungen gezähmt, in denen er arbeitet. Damit ist aber nur ganz im allgemeinen<br />

gesichert, daß im Labor keine Mystischen Hochzeiten mehr gefeiert, in der Botanik<br />

keine Blauen Blumen mehr gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> in die geographische Landschaft keine<br />

Mutter-Kind-Symbiosen mehr projiziert werden. Die »szientifische Verwerfung« <strong>und</strong><br />

die Differenzierung der Erfahrungsweisen kann aber nicht einfach als bewußtlose Rollennahme<br />

aufrechterhalten, sondern muß bis zu einem gewissen Grade auch als persönliche<br />

Leistung <strong>und</strong> Unterscheidungsfähigkeit wiederholt werden können.<br />

Drittens: Rêverien <strong>und</strong> Innenwelt-Projektionen wie die zitierte Oenothera-Rêverie<br />

können heute das Wissen <strong>des</strong> Tagträumers oft gar nicht mehr ernsthaft verwirren. Wenn<br />

die Sache aber wirklich geklärt, zumin<strong>des</strong>t den primären Phantasmen entrissen ist, kann<br />

man sie auch ohne Gefahr wieder verzaubern. Dann können die Tagträumereien <strong>und</strong> ihre<br />

bezaubernden Falschheiten, die aus der wissenschaftlichen Erfahrung vertrieben<br />

worden sind, unter den Gegenständen ästhetischer Erfahrung (in einer anderen Sinnregion<br />

<strong>und</strong> in einem anderen ontologischen Aggregatzustand) auf neue Weise toleriert<br />

<strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lich zugelassen, ja sogar autonom weiterentwickelt werden. Bachelard hat<br />

das subtil <strong>und</strong> paradox als eine »bewußte« <strong>und</strong> »dialektische Verdrängung« beschrieben,<br />

bei der der Forscher im Kontakt mit dem Verdrängten bleibt <strong>und</strong> das Verdrängte<br />

nicht einfach abstößt, auch nicht einfach so wiederholt, wie es zuvor war, sondern auf<br />

eine neue, sublimere Weise wiederaufnimmt. Dann erst ist der Lern- <strong>und</strong> Forschungsprozeß<br />

wirklich an sein Ziel gekommen <strong>und</strong> bildet eine jener »vollständigen«, »in sich<br />

vollendeten« <strong>und</strong> »vollkommenen« Erfahrungen (Dewey 1988), in denen neben John<br />

Dewey viele <strong>Ästhetik</strong>-Theoretiker den Prototyp ästhetischer Erfahrung schlechthin gesehen<br />

haben.<br />

Viertens: Zwar trägt die ästhetische Erfahrung in Natur <strong>und</strong> Lebenswelt heute kaum<br />

mehr etwas zum wissenschaftlichen Wissen bei, nicht einmal mehr zu seiner Heuristik<br />

<strong>und</strong> Didaktik. Aber wenn auch ästhetische Erfahrungen <strong>und</strong> Rêverien heute kein Objektwissen<br />

mehr hergeben, so doch immerhin eine Art von Subjektwissen – sie liefern<br />

kein besseres Naturverständnis mehr, aber unter Umständen doch ein besseres Selbst<strong>und</strong><br />

Menschenverständnis. Die Oenothera-Rêverie sagt der Tagträumerin nichts Sinnvolles<br />

über die Biologie <strong>und</strong> Ökologie dieser Pflanze; sie sagt der Tagträumerin aber<br />

unter Umständen etwas über sich selbst. Was also (wie die Tagtraum-Oenothera) kein<br />

Gegenstand der Botanik (mehr) sein kann, kann doch immer noch ein Gegenstand der<br />

Selbstreflexion werden <strong>und</strong> z.B. die Selbstreflexion (»Selbstreferenz«) eines <strong>Spuren</strong>lesers<br />

anstoßen.<br />

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