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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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Bedeutungen (Signifikate) sind Ergebnisse von oft komplexen Schlußfolgerungen.<br />

Auch diese Schlußfolgerungen kann man (nach Peirce) als Semiosen (Zeichenerzeugungsprozesse)<br />

betrachten. Dann wird sozusagen nicht ein Kode genutzt, sondern<br />

ein Kode instauriert. In solchen Fällen haben wir es mit »<strong>Spuren</strong>« <strong>und</strong> <strong>Spuren</strong>lesen im<br />

eigentlichen Sinne zu tun. <strong>Spuren</strong>lesen im eigentlichen Sinne heißt: Nicht einen Kode<br />

einfach anwenden, sondern etwas neu kodieren. Diese Neukodierung kann Abdrücke,<br />

Indizien <strong>und</strong> Symptome gleichermaßen betreffen.<br />

Aus den Beispielen folgt, daß <strong>Spuren</strong> komplexe Sachverhalte sein können (<strong>und</strong> <strong>Spuren</strong>lesen<br />

oft auf komplexe Sachverhalte zielt), <strong>und</strong> zwar komplexe Sachverhalte sowohl<br />

auf der Ebene der Signifikanten wie auf der Ebene der Signifikate. Auf der Ebene der<br />

Signifikanten kann »die Spur« z.B. sein: ein komplexes Fußspurenbild, ein ganzes Puzzle<br />

von Indizien oder ein komplexes Vegetationsmosaik. Auf der Ebene der Signifikate<br />

kann eine Spur das Resultat komplexer Überlegungen <strong>und</strong> Schlüsse sein, z.B. eine ganze<br />

<strong>Theorie</strong>, eine ganze Geschichte, ja ein ganzer Diskurs. Kann man so komplexe Sachverhalte<br />

überhaupt noch als Sonderfall von »Kodieren«, »kodierten Einheiten« <strong>und</strong><br />

»Ko<strong>des</strong>« betrachten? Ich denke ja. Andernfalls vermischt man m.E. Semiotik mit Wissenschaftstheorie.<br />

Daß die Bedeutung eines Zeichens (das Signifikat eines Signifikanten) eine Geschichte<br />

sein kann, ist in der Semiotik keine ungewöhnliche Vorstellung. Ein Semem<br />

(der Bedeutungsinhalt eines sprachlichen Ausdrucks) kann als ein virtueller Text, <strong>und</strong><br />

ein Text kann als »Expansion« eines Semems betrachtet werden; so kann auch ein Signifikat<br />

als eine virtuelle Geschichte <strong>und</strong> eine Geschichte als die Expansion eines Signifikats<br />

verstanden werden. In der modernen Wissenschaftstheorie gibt es ja Analogien:<br />

Eine <strong>Theorie</strong> kann man als ein komplexes »Aussagengeflecht« verstehen, aber auch als<br />

ein einziges (Riesen-)Prädikat. So ist beim <strong>Spuren</strong>lesen im eigentlichen Sinn (z.B. in<br />

Vegetationsanalysen, bei denen ein Vegetationsbestand als eine Spur betrachtet wird)<br />

die Bedeutung <strong>des</strong> Signifikanten unter Umständen ein »Riesensignifikat«.<br />

Es gibt eine alte <strong>und</strong> bekannte Einteilung der Gesamtheit der Zeichen in »natürliche«<br />

<strong>und</strong> »künstliche Zeichen«. »Künstliche Zeichen« (z.B. Verkehrsschilder <strong>und</strong> Rosenbeete)<br />

sind, so heißt es, (1.) von menschlichen Sendern (2.) absichtsvoll <strong>und</strong> (3.) adressiert,<br />

d.h. für bestimmte Empfänger produziert, während für »natürliche Zeichen« (z.B.<br />

Rauch <strong>und</strong> Masern) gilt, daß sie absichtslos <strong>und</strong> unadressiert produziert werden <strong>und</strong><br />

nicht unbedingt von menschlichen Sendern ausgehen. Anzeichen <strong>und</strong> <strong>Spuren</strong> gelten<br />

dann oft als »natürliche Zeichen«.<br />

Es widerspricht bekanntlich nicht dem üblichen Sprachgefühl, wenn man sagt, daß<br />

jemand »bewußt <strong>Spuren</strong> hinterlassen hat«. »Echte« <strong>Spuren</strong> zu hinterlassen <strong>und</strong> »falsche«<br />

<strong>Spuren</strong> zu erfinden (oder zu »legen«), das sind bei<strong>des</strong> verbreitete <strong>und</strong> ursprüngliche<br />

Formen der Zeichenproduktion. Und wie man Indizien fälschen kann, so kann man<br />

Symptome simulieren. Beim Simulieren <strong>und</strong> Dissimulieren von Krankheiten werden<br />

Symptome (im allgemeinen »notwendige Wirkungen von anwesenden Ursachen«) zu<br />

absichtsvoll adressierten »künstlichen Zeichen«. Um zur Illustration wieder auf eine<br />

sehr alte Form <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesens zurückzukommen: <strong>Spuren</strong>lesen im Buch der Natur war<br />

ein Lesen von intendierten <strong>Spuren</strong> Gottes; Gott hatte diese <strong>Spuren</strong> intendiert <strong>und</strong> den<br />

Menschen sogar den Kode an die Hand gegeben, um diese <strong>Spuren</strong> zu dekodieren, entweder<br />

durch das natürliche Licht der Vernunft <strong>und</strong>/oder durch besondere Offenbarung.<br />

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