Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium
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sen mehr oder weniger befreit sind. Diese »kontemplative Attraktivität« kann sich – wie<br />
bei anderen Arten ästhetischer Attraktivität – auf Augen-, Hör-, Riech- <strong>und</strong> Hauterlebnisse<br />
beziehen.<br />
Selbstverständlich sind Sinneserlebnisse ohne je<strong>des</strong> Sinnerlebnis kaum vorstellbar,<br />
<strong>und</strong> völlig bedeutungslose Formen <strong>und</strong> Farben haben wohl kaum ästhetische Wirkungen.<br />
Gemeint ist vor allem das <strong>Zur</strong>ücktreten <strong>und</strong> Verschwinden der etablierten (alltäglichen<br />
oder auch professionellen) Bedeutungen, eine Entlastung vom üblichen Sinn (<strong>und</strong><br />
folglich auch eine Entlastung von Kommunikationszwängen). Dabei können ganz andere<br />
<strong>und</strong> neue Wahrnehmungskonfigurationen entstehen, <strong>und</strong> die im Wahrnehmungsfeld<br />
verbleibende Semantik ist zwar nicht unbedingt blasser, aber doch fluider <strong>und</strong> jedenfalls<br />
mehr konnotativ als denotativ.<br />
Neben dieser »kontemplativen« Attraktivität steht zweitens eine »korresponsive«.<br />
»Korresponsiv schön« ist etwas, weil wir es existentiell schätzen – z.B., weil es uns<br />
zum Ambiente eines idealen Lebens zu gehören scheint; es evoziert z.B. exemplarische<br />
Orte einer Lebensform, die uns ungleich sinnvoller <strong>und</strong> sinnerfüllter zu sein scheint als<br />
die alltägliche eigene (oder überhaupt wünschenswerter <strong>und</strong> glücklicher als das Leben,<br />
das wir gerade führen müssen), z.B., weil wir diese Lebensform als unmittelbarer, einfacher,<br />
»natürlicher« oder auch als leichter, freier <strong>und</strong> spielerischer schätzen. Das können<br />
auch vergangene oder avisierte, oft auf schmerzliche Weise nicht-gegenwärtige<br />
Formen <strong>des</strong> eigenen Lebens sein. Kurz, hier nähert sich das ästhetisch Attraktive dem<br />
individuell <strong>und</strong> eudämonistisch Guten <strong>und</strong> Erstrebenswerten, was natürlich keineswegs<br />
mit dem sozial <strong>und</strong> moralisch Guten <strong>und</strong> Erstrebenswerten korrelieren muß, vielmehr<br />
auch von geradezu luziferischer Qualität sein kann.<br />
Der korresponsive Reiz <strong>des</strong> Wahrnehmungsfel<strong>des</strong> kann aber z.B. auch darin bestehen,<br />
daß es einen vielleicht ganz unbestimmten <strong>und</strong> unfaßbaren, aber doch spürbar ichnahen<br />
<strong>und</strong> »tiefen« Sinn zu haben scheint, also mir in einem schwerlesbaren Kode, sozusagen<br />
hieroglyphisch etwas zu bedeuten scheint, was mit mir selber zu tun hat. Oder<br />
das Wahrnehmungsfeld wird zum sinnlich-anschaulichen Erscheinen <strong>und</strong> Sich-Zeigen<br />
(zur »Intuition«) einer großen Idee, die, wie untergründig auch immer, mit den genannten<br />
korresponsiv schönen Gegenstandswelten verb<strong>und</strong>en ist.<br />
Drittens kann die ästhetische Attraktivität eines Gegenstan<strong>des</strong> in Natur <strong>und</strong> Lebenswelt<br />
darin bestehen, daß er an Kunst erinnert – ja wie eine Nachahmung <strong>und</strong> Variation<br />
der Kunst durch die Natur erscheint (»imaginative« oder »projektive Naturschönheit«).<br />
Selbst Gegenstände, für die eigentlich die Naturwissenschaft zuständig ist, ja sogar wissenschaftliche<br />
Konstrukte, Modelle <strong>und</strong> <strong>Theorie</strong>n können unter diesem ästhetischen<br />
Blick ausdruckshaft sowie kunstwerkanalog betracht- <strong>und</strong> verstehbar werden; sie werden<br />
wahrgenommen, als ob die Natur, die Lebenswelt oder sogar die Wissenschaft quasi<br />
als Künstler Kunstwerke improvisiert hätten. Einem solchen Blick werden virtuell<br />
alle Dinge, Situationen, Szenerien kunstförmig lesbar – bis zum Genuß eines bewußt<br />
verliehenen Kunstsinns <strong>und</strong> zum Genuß plötzlicher <strong>und</strong> flüchtiger Kunst <strong>und</strong> Poesie<br />
ganz außerhalb von Kunst <strong>und</strong> Poesie.<br />
Wenn man es auf Formeln bringen will, dann etwa so: Im Falle kontemplativer Naturschönheit<br />
nehmen wir mit bedeutungsentlastetem, sozusagen langem blödem Blick<br />
einen sinnlichen Schein als solchen wahr; im Falle der korresponsiven Schönheit nehmen<br />
wir mit wunschvollem, begehrlichem Blick den Nach- oder Vorschein eines idea-<br />
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