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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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ein Trampelpfad, ein Blick auf die Vegetation oder die Graffiti auf einem Schulhof oft<br />

mehr <strong>und</strong> Zuverlässigeres als 100 Antworten. Die tatsächlichen Pflegeroutinen kann ein<br />

Vegetationsk<strong>und</strong>ler an der Unkrautvegetation viel zuverlässiger <strong>und</strong> valider ablesen als<br />

an noch so vielen verbalen Äußerungen der für die Pflege Zuständigen; in jeder verbalen<br />

Antwort steckt viel mehr social <strong>des</strong>irability als Realität. Wenn aber schon Tatsachenfragen<br />

so invalide Antworten ergeben, dann noch viel mehr alle Einstellungsfragen.<br />

Aber diese nicht-reaktiven Verfahren haben auch ihre Grenzen. Erstens: Diese Meßverfahren<br />

werden zwar oft unter dem Thema »qualitative Sozialforschung« geführt,<br />

aber sie passen in bestimmter Hinsicht nicht besonders gut zur Basisphilosophie der<br />

qualitativen Sozialforschung. Die nicht-reaktiven Verfahren sind ja durchweg darauf<br />

angelegt, den Forschereinfluß zu minimieren <strong>und</strong> Interaktion mit den Beforschten zu<br />

vermeiden; das eigentliche Ideal qualitativer Sozialforschung ist aber eigentlich nicht<br />

Minimierung <strong>des</strong> Forschereinflusses <strong>und</strong> Verzicht auf Interaktion, sondern Reflexion<br />

<strong>und</strong> Kontrolle <strong>des</strong> Forschereinflusses <strong>und</strong> der Interaktion mit den Beforschten. Nichtreaktive<br />

Meßverfahren sind oft sehr gut geeignet, um mittels Erosions- <strong>und</strong> Akkumulationsspuren<br />

sichtbares bzw. physisches Verhalten zu registrieren; über die individuellen<br />

Situationsdefinitionen <strong>und</strong> den ganzen sozialen Kontext <strong>des</strong> Verhaltens/Handelns kann<br />

man anhand der <strong>Spuren</strong> allein oft nur spekulieren. Interpretieren die Leute, die die <strong>Spuren</strong><br />

hinerlassen, <strong>und</strong> der Forscher, der ihre <strong>Spuren</strong> liest, vielleicht die Situation ganz<br />

unterschiedlich? 17 Die sog. qualitative Sozialforschung will aber gerade diese Selbst<strong>und</strong><br />

Situationsdefinition der Subjekte in »natürlichen« Situationen explizit zum Gegenstand<br />

machen, also deren Sichtweisen <strong>und</strong> Denkstrukturen, deren Relevanzsysteme <strong>und</strong><br />

Alltagstheorien (»folk science«). Nicht-reaktive Meßverfahren (<strong>und</strong> ähnlich das <strong>Spuren</strong>lesen)<br />

müssen also mit den »eigentlichen« Verfahren der qualitativen Sozialforschung<br />

verb<strong>und</strong>en werden. Die Leute, die die Lebensspuren hinterlassen haben, müssen<br />

auch selbst zu Wort kommen, <strong>und</strong> zwar in möglichst natürlichen (alltagsnahen) <strong>und</strong><br />

spontanen Gespächssituationen, in denen sie ihre Sicht der Dinge zum Ausdruck bringen<br />

können.<br />

Das beschriebene Manko ist allerdings nicht mehr so groß, wenn wir zu den nichtreaktiven<br />

Meßverfahren (wie üblich) auch die nicht-reaktiven Feldexperimente rechnen.<br />

Zwei dieser feldexperimentellen Techniken sind besonders bekannt geworden: die lost<br />

letter-technique <strong>und</strong> die wrong number-technique 18 . Allgemeiner verwendbar ist die<br />

Technik, sich auffällig zu benehmen <strong>und</strong> die Reaktionen in unterschiedlichen Umge-<br />

17 Man kann an den <strong>Spuren</strong> z.B. ablesen, wie <strong>und</strong> wie oft das Unkraut bekämpft wird, aber erfährt nichts<br />

über die Unkrautphilosophie <strong>und</strong> Unkrautökologie der zuständigen Leute, d.h., man kann die Vegetation<br />

dann zwar ökologisch, aber nicht sozial interpretieren, <strong>und</strong> eine Stadtökologie ohne diese soziale Interpretationsebene<br />

ist, wie ich schon explizit argumentiert habe, heute nicht mehr sinnvoll.<br />

18 Lost letter-technique: Der Forscher »verliert« Briefe <strong>und</strong> beobachtet dann, wie viele dieser Briefe von den<br />

Findern weitergeleitet wurden. Er kann Adressen, Verlustorte <strong>und</strong> Inhalte variieren (z.B. simuliertes Hartgeld<br />

hineintun!) <strong>und</strong> dann die unterschiedlichen Quoten von weitergeleiteten Briefen interpretieren.<br />

Wrong number-technique: Der Forscher ruft an <strong>und</strong> entschuldigt sich, eine falsche Nummer gewählt zu<br />

haben. Er variiert dabei z.B. seinen Namen, seine Sprechweise, sein Anliegen <strong>und</strong> die »Versuchspersonen«<br />

<strong>und</strong> beobachtet die Unterschiede in den Reaktionen.<br />

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