Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium
Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium
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in unterschiedlichen Räumen) ist ein eigenes Thema im Rahmen <strong>des</strong> Themas »Spur«; es<br />
ist auch selber wieder eine Spur.<br />
Ferner gibt es zu jeder Zeit <strong>Spuren</strong>, die nicht wahrgenommen werden: »traces délaissées«<br />
(unbeachtet wegen Desinteresse oder scheinbarer Belanglosigkeit; Beispiel: <strong>Spuren</strong><br />
der Geschichte <strong>des</strong> Niedervolks <strong>und</strong> der Frauen), »traces inconnus« (unbekannt,<br />
weil sie von der Wahrnehmungsoberfläche verschw<strong>und</strong>en, »invisibilisiert«, »versunken«<br />
oder »begraben« sind; Beispiel: eine im Meer versunkene Kogge); »traces méconnus«<br />
(verkannt <strong>und</strong> übersehen, z.B. weil Interpretationsmöglichkeiten <strong>und</strong>/oder schon<br />
die Beobachtungstechniken fehlten; Beispiel: ein unter Übermalungen verborgenes älteres<br />
Gemälde). Jede Zeit übersieht andere <strong>Spuren</strong>arten. Andererseits gibt es immer <strong>Spuren</strong>sorten,<br />
die gerade gehätschelt, akkumuliert, musealisiert werden, warum – von<br />
wem?<br />
Also hat das <strong>Spuren</strong>lesen immer zwei Dimensionen: Neben einer (direkten) Geschichtsschreibung<br />
aufgr<strong>und</strong>/ durch <strong>Spuren</strong> <strong>und</strong> <strong>Spuren</strong>lesen muß es auch immer eine<br />
Geschichtsschreibung geben, die die Geschichte <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesens <strong>und</strong> der <strong>Spuren</strong>leser<br />
behandelt. Die Geschichtsschreibung durch <strong>Spuren</strong> muß kontrolliert werden durch eine<br />
Geschichtsschreibung über <strong>Spuren</strong>, <strong>Spuren</strong>lesen <strong>und</strong> <strong>Spuren</strong>leser. Da auch die klassische<br />
Geographie ein <strong>Spuren</strong>lesen war <strong>und</strong> ist, gilt das auch für die Geographie. Die<br />
Fragen lauten dann z.B.: Welche menschlichen Gruppen – welche Historiker – welche<br />
Geographen – welche Vegetationsk<strong>und</strong>ler welcher Zeit haben welche <strong>Spuren</strong> beachtet<br />
<strong>und</strong> nicht beachtet, <strong>und</strong> warum? Auch in Vegetationsk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Pflanzensoziologie ist<br />
das ein hochinteressantes Thema: man denke an die Saumgesellschaften, an die städtischen<br />
Scherrasen oder an das Queckengrünland sei es in der intensivierten Agrarlandschaft,<br />
sei es auf extensivierten städtischen Zierrasenflächen.<br />
Die reale Geschichte, auch die Geschichte der Landschaften <strong>und</strong> Länder, ist »une histoire<br />
<strong>des</strong> traçages et effaçages«, d.h. eine Geschichte der Herstellung/Anhäufung/<br />
Überlieferung/Erfindung <strong>und</strong> der Verwischung/Auslöschung von <strong>Spuren</strong> <strong>und</strong> damit von<br />
Geschehenem. Man denke an Siedlungen, Friedhöfe, Denkmäler, Archive, Museen,<br />
Straßennamen, an die Vegetation von Städten <strong>und</strong> Kulturlandschaften oder was auch<br />
immer. Das gleiche gilt für die Geschichtswissenschaft, die Geographie <strong>und</strong> die Vegetationsk<strong>und</strong>e,<br />
gilt aber auch für die Geschichte der Geschichtsschreibung, die Geschichte<br />
der Geographie <strong>und</strong> die Geschichte der Vegetationsk<strong>und</strong>e. »L’histoire <strong>des</strong> traces,<br />
c’est l’histoire de la sensibilité à certains types de témoignages et de discours« (die<br />
Geschichte der <strong>Spuren</strong> ist die Geschichte der Sensibilität für bestimmte Typen<br />
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