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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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Hinter den Worten <strong>des</strong> Detektivs steht also eine durchaus moderne Art von ästhetischem<br />

Konstruktivismus. Er verlangt maximale Kohärenz, <strong>und</strong> zwar Kohärenz einer<br />

bestimmten, hypotheseninternen Art. Implizit vertritt er eine Art von Kohärenztheorie<br />

der Wahrheit: Die richtige Hypothese, das ist die, die am meisten Kohärenz vorweist –<br />

<strong>und</strong> zwar vor allem eine ästhetische Kohärenz. Eine solche Devise läuft erstens Gefahr,<br />

immer zu viel imaginäre Kohärenz <strong>und</strong> zu wenig realen Zufall zu sehen, <strong>und</strong> riskiert<br />

zweitens, nicht nur Kohärenz, sondern auch Schönheit in ein Annehmbarkeits-, ja in ein<br />

Wahrheitskriterium zu verwandeln.<br />

»Einer der Polizisten«, fährt die Geschichte fort, »hatte in der kleinen Schreibmaschine<br />

(<strong>des</strong> Ermordeten) ein Blatt Papier entdeckt, auf dem der folgende unschlüssige<br />

Satz stand: ,Der erste Buchstabe <strong>des</strong> NAMENS ist artikuliert worden‘. Lönnrot lächelte<br />

nicht. Plötzlich bibliophil oder Hebraist, ließ er sich die Bücher <strong>des</strong> Toten einpacken<br />

<strong>und</strong> nahm sie mit in seine Wohnung. Der polizeilichen Untersuchung gegenüber<br />

gleichgültig, widmete er sich dem Studium der Bücher.«<br />

Darin steckt einerseits das Bild vom wahren, idealen, vom seßhaften, ja unbeweglichen<br />

Detektiv, vom »statischen Ermittler« <strong>und</strong> »merkwürdigen voyageur (nicht autour<br />

du monde, sondern) autour de la chambre«, der die Rätsel mittels Logik <strong>und</strong> Raisonnement<br />

löst, ohne sein Zimmer zu verlassen, <strong>und</strong> der nur cum grano salis ein <strong>Spuren</strong>leser<br />

sei, jedenfalls keiner der wissenschaftlichen oder vorwissenschaftlichen, mit<br />

szientifischem Gerät bestückten »Aschewühler <strong>und</strong> <strong>Spuren</strong>leser« der offiziellen Polizei.<br />

Mehr noch als Lönnrot treibt Borges’ eingesperrter Detektiv Parodi (in »Mord nach<br />

Modell«) dieses Bild ins Extrem. Urbild ist natürlich Auguste Dupin, der »raucht <strong>und</strong><br />

denkt« (so wie Erik Lönnrot »liest <strong>und</strong> denkt«):<br />

In einer merkwürdigen Erzählung von Poe erschöpft der hartnäckige Chef der<br />

Pariser Polizei, der unbedingt einen Brief wiederfinden will, vergebens die Methoden<br />

der detaillierten Ermittlung: <strong>des</strong> Bohrers, der Lupe, <strong>des</strong> Mikroskops. Der<br />

seßhafte Auguste Dupin raucht <strong>und</strong> denkt inzwischen in seinen Räumlichkeiten in<br />

der Rue Dunot. Als er am nächsten Tag das Problem gelöst hat, sucht er das<br />

Haus auf, das der polizeilichen Untersuchung trotzte. Er tritt ein <strong>und</strong> findet sofort<br />

den Brief ... Das geschah um 1855. Seither hat der unermüdliche Chef der Polizei<br />

von Paris zahllose Nachahmer, der denkende Auguste Dupin nur wenige. Auf einen<br />

raisonnierenden Detektiv – einen Ellery Queen oder Father Brown oder<br />

Fürst Zaleski – kommen h<strong>und</strong>ert Aschewühler <strong>und</strong> <strong>Spuren</strong>leser. Selbst Sherlock<br />

Holmes – bringe ich den Mut <strong>und</strong> die Undankbarkeit auf, es zu sagen? – war ein<br />

Mann von Bohrer <strong>und</strong> Mikroskop, nicht von Logik. (Borges: Von Büchern <strong>und</strong><br />

Autoren, S. 119f., vgl. auch: Mord nach Modell, S. 18)<br />

Zum anderen erscheint Lönnrot aber eben nicht nur als der in seinem Kabinett raisonnierende<br />

Ideal-Detektiv, als der Logiker, für den er sich auch selber hält, sondern auch<br />

als moderner Literat, der eben nicht »raucht <strong>und</strong> denkt«, sondern liest <strong>und</strong> denkt – <strong>und</strong><br />

zwar in phantastischen alten Büchern, die in der Moderne ja die Paradiese der Poeten<br />

geworden ist, weil die außer Wert gesetzten <strong>Theorie</strong>n <strong>und</strong> Sinnwelten dieser alten Bücher<br />

(ihr »Aberglauben«) jetzt, in der Moderne, zur ästhetischen Aneignung freigege-<br />

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