Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium
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sche Geschichte, die im übrigen auch ein Beispiel dafür ist, wie aus ästhetischen Wahrnehmungen<br />
Ideologien werden (Schultz 1980, Eisel 1982). Wem auch das noch zu historisch<br />
erscheint, den muß man an die gegenwärtige politische <strong>und</strong> pädagogische<br />
Ökologie erinnern, die voller überwertiger <strong>und</strong> überdeterminierter Tagtraumgegenstände<br />
ist, die naturwissenschaftlich-ökologisch überhaupt nichts wert sind, nicht einmal<br />
heuristisch <strong>und</strong> didaktisch, aber ihres psychischen <strong>und</strong> politischen Mehrwerts willen<br />
gegen jede angemessene Objektivierung immun zu sein scheinen. Diese ökologischen<br />
Tagträumereien z.B. von schönen <strong>und</strong> guten Ganzheiten, Harmonien <strong>und</strong> Gleichgewichten,<br />
Ökosystemen <strong>und</strong> Biotopen, die meist in der Nachfolge von alten Mythen stehen,<br />
scheinen mir noch immer so eindrucksvoll <strong>und</strong> irreführend zu sein, daß man im<br />
Unterricht (an Schule <strong>und</strong> Hochschule!) immer auch das »Lernziel: Auflösung ökologischer<br />
Mythen« verfolgen sollte (im einzelnen: Hard 1982).<br />
Die wissenschaftsgeschichtliche Moral solcher Geschichten scheint klar zu sein, <strong>und</strong><br />
Gaston Bachelard hat sie besonders eindrucksvoll formuliert: Wirkliches Wissen bedeutet<br />
immer einen radikalen Bruch mit all den Innenwelt-Phantasmen in der Außenwelt,<br />
diesen attraktiv-intimen Bilder- <strong>und</strong> Symbolwelten, die den Gegenstandsbereich<br />
immer schon besetzt halten. Erst jenseits dieser »rupture épistémologique« gibt es<br />
wirkliches Wissen. Sowohl der Forscher wie auch der Schüler sind, wenn sie wirklich<br />
forschen <strong>und</strong> lernen, Träumer, die sich zähmen; etwas erfolgreich erforschen heißt immer<br />
auch: aus einem Tagtraum erwachen.<br />
Das ist aber noch nicht die ganze Geschichte. Erstens: Die ich-nahe, subjektivierende,<br />
projektive, im weitesten Sinne ästhetische Erfahrung ist nicht bloß eine Vorstufe der<br />
objektivierenden, auch nicht bloß eine Sache der Kindheit unseres Geistes <strong>und</strong> der<br />
Kindheit unserer jeweiligen Wissenschaft. Die objektivierenden Neukonstruktionen der<br />
Gegenstände werden (wie etwa Boesch eindringlich beschrieben hat) zugleich immer<br />
wieder von neuen Subjektivierungen begleitet, die ich-ferner gerückten Gegenstände also<br />
wieder mit ich-näheren Bedeutungen angereichert <strong>und</strong> dergestalt (im weitesten Sinne)<br />
auch ästhetisch assimiliert.<br />
Nicht nur in der Lebens- <strong>und</strong> Unterrichtserfahrung der Schüler, auch noch in der Erfahrung<br />
<strong>des</strong> Erwachsenen, auch <strong>des</strong> erwachsenen Wissenschaftlers, läuft beim Umgang<br />
mit ihren Gegenständen stets eine Erwartung <strong>und</strong> Begierde mit, die psychischen Soll-<br />
Werte, die inneren Wunsch- <strong>und</strong> Scheckbilder in der Außenwelt wiederzufinden. Das<br />
Auge <strong>des</strong> Menschen hat nach Starobinskis eindrucksvoller Beschreibung einen unersättlichen<br />
»appétit de voir davantage«, d.h. einen Appetit, mehr zu sehen, als zu sehen<br />
ist; das stets ungesättigte Auge <strong>des</strong> Menschen will in allem Gegebenen immer noch etwas<br />
anderes <strong>und</strong> mehr sehen <strong>und</strong> sucht also im wirklich Anwesenden immer ein noch<br />
befriedigenderes Abwesen<strong>des</strong>, <strong>und</strong> d.h.: eine ich-nähere, intimere <strong>und</strong> »schönere« Welt.<br />
Es unterliegt sozusagen einer Dauerverführung, in dem, was sich ihm gegenwärtig unmittelbar<br />
darbietet, immer auch nach etwas Attraktiv-Verborgenem zu fahnden, <strong>und</strong> das<br />
scheint charakteristischerweise zugleich zum Greifen nah zu sein <strong>und</strong> sich dem Zugriff<br />
doch immerfort wieder zu entziehen. Es ist bekanntlich das Thema vieler Mythen, daß<br />
ein prototypisches Individuum dieser Verlockung bis zur Verblendung <strong>und</strong> bis zum<br />
Verderben folgt. Eben diese »Energetik <strong>des</strong> Blicks« (Jauß 1977, S. 101) ist es, die in<br />
der ästhetischen Erfahrung arbeitet <strong>und</strong> hier bis zu einem gewissen Grade autonom <strong>und</strong><br />
sozusagen sublimiert wird.<br />
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