Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium
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essantheit« betont einerseits eine Differenzqualität, die eigentlich ästhetisch ist, die aber<br />
zugleich in der Wissenschaft, überhaupt für die Ergebnisse von Forschungs- <strong>und</strong> Erkenntnisprozessen<br />
wichtig ist – hier allerdings nur zusammen mit dem im Konfliktfall<br />
(übergeordneten) Kode »wahr/falsch«.<br />
Lönnrot gesteht zu, daß die Wirklichkeit nicht »interessant« zu sein braucht; aber, so<br />
meint er, Hypothesen über die Wirklichkeit müßten es sein. Wie aber, wenn die Wahrheit<br />
über die Wirklichkeit nicht interessant ist (»nicht interessant« im Sinne von »nicht<br />
überraschend«, »im Rahmen der üblichen Erwartungen« usf.) – wie soll dann der Inhalt<br />
der Hypothese, die die Wirklichkeit beschreibt, interessant sein? 76 Die mehrdeutigen<br />
Worte von Lönnrot laufen also in der Tendenz darauf hinaus, daß jedenfalls die interessantere<br />
Hypothese vorzuziehen sei, <strong>und</strong> es liegt in der Richtung seines Gedankens, gegebenenfalls<br />
eine zutreffendere Hypothese wegen ihres Mangels an Interessantheit abzuweisen.<br />
Das klänge akzeptabler, wenn die Regel nur lautete, man sollte es zunächst einmal<br />
mit der interessanten oder interessanteren Hypothese versuchen. Der Fortgang der Geschichte<br />
zeigt, daß es so liberal nicht gemeint ist. Aber auch das wäre schon eine ziemlich<br />
unpraktikable Art von Dissidenten-Forschungsethik, nämlich die innerhalb wie außerhalb<br />
der Wissenschaft unlebbare Maxime, immer denjenigen Problemlösungsversuch<br />
vorzuziehen, der dem etablierten <strong>und</strong> bewährten Wissen am schroffsten widerspricht.<br />
Man könnte auch so sagen: Lönnrot macht aus einer notwendigen Bedingung hochwertiger<br />
Hypothesen tendenziell eine hinreichende Bedingung. 77<br />
Mit »interessant« meint Lönnrot aber noch etwas Spezifischeres. Er hätte auch sagen<br />
können, daß es ihm um »schöne Hypothesen« gehe. Man könnte auch sagen: Lönnrot<br />
fordert seiner Geschichte eine poetische Funktion, anders gesagt: »Poetizität« oder<br />
»Ästhetizität« ab.<br />
Das gilt schon in dem ziemlich exakten Sinn der berühmten Definition von Roman<br />
Jacobson: »The poetic function projects the principle of equivalence into the axis of<br />
combination« (die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der<br />
Achse der Selektion auf die Achse der Kombination).<br />
Das ist wie folgt zu verstehen: Die Formulierung eines Textes oder einer Geschichte<br />
besteht in der »horizontalen« Reihung (Kombination) von Textelementen nach<br />
bestimmten syntaktischen Regeln, <strong>und</strong> dabei werden die Elemente in »sukzessiver<br />
Selektion« aus einer Reihe von »vertikalen Äquivalenzklassen« (»Paradigmen«) genommen.<br />
Wenn nun die horizontale Sequenz, das Syntagma, auch selber teilweise nach<br />
Maßgabe von bestimmten Paradigmen (Äquivalenzen) strukturiert wird, wenn also<br />
76 Die inhaltlich uninteressante Hypothese könnte dann immer noch formal (z.B. rhetorisch) mehr oder weniger<br />
interessant sein; das ist aber von Lönnrot nicht gemeint.<br />
77 Zwar ist auch in der Wissenschaft »Wahrheit« für sich allein noch kein Wert; schon <strong>des</strong>halb nicht, weil<br />
wahre Aussagen zu wohlfeil sind. Es müssen in der Tat immer auch in einem weiten Sinne interessante<br />
Aussagen sein, aber »interessant« hat hier einen viel weiteren Sinn als bei Lönnart, <strong>und</strong> der Interessantheitswert<br />
ist auf keinen Fall vom Wahrheitswert abgekoppelt.<br />
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