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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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sind. Sie werden für den oberflächlichen Blick von der auffälligen Mäusegerstepopulation<br />

»verdeckt«.<br />

Ein Vegetationsk<strong>und</strong>ler neigt im allgemeinen dazu, Vegetationsbestände als diagnostische<br />

Zeichen zu lesen, vor allem, wenn er, wie normalerweise, von der Biologie herkommt.<br />

Ein diagnostisches Zeichen entsteht, wenn der Beobachter seine eigene Beobachtung/Deutung<br />

auf der einen Seite, die Produktion/Genese <strong>des</strong> Zeichens andererseits<br />

wenigstens ungefähr auf der gleichen zeitlichen Ebene ansiedelt. Wenn man das Zeichen<br />

nach diesem »Modell <strong>des</strong> Diagnostikers« konstituiert, dann liegt es nahe, den üblichen<br />

Kode anzuwenden <strong>und</strong> diesem Hordeetum trifolietosum (oder auch Lolio-<br />

Plantaginetum hordeetosum) als Signifikat folgende Diagnose zuzuordnen: »Betretene<br />

Mäusegersteflur« oder »ruderalisierte Trittrasen«, d.h. eine ungepflegte, aber betretene<br />

Variante <strong>des</strong> Weidelgras-Wegerich-Weißklee-Trittrasens.<br />

Der Vegetationsk<strong>und</strong>ler sieht also von seiner Voreinstellung her die aktuelle Vegetation<br />

primär als Ausdruck der aktuellen Umweltbedingungen, er konstituiert seine Zeichen<br />

mit Vorliebe als Diagnostiker, d.h., er sieht diagnostische Zeichen. Er signifiziert<br />

<strong>und</strong> interpretiert nach der Prämisse (dem Vor-Urteil): »Das ist der typische Standort –<br />

die typische Umweltfaktorenkonstellation – für eben diese Artenkombination«. Das hat<br />

auch damit zu tun, daß er in diesem Fall, d.h., wenn er die diagnostische Lesart bevorzugt,<br />

auf einen relativ festen Kode von »ökologischen Artengruppen« zurückgreifen<br />

kann; er braucht sich vor allem auf keine »Geschichte(n)« einzulassen.<br />

Es gibt aber alternative Zeichenkonstitutionen, z.B. die Deutung <strong>des</strong> gleichen Bestan<strong>des</strong><br />

als historisches Zeichen. Die Konstitution eines historischen Zeichens ist bei<br />

einem entsprechenden Erkenntnisinteresse zwar prinzipiell immer möglich. In diesem<br />

Sinne kann man sagen, daß »die Welt« eines <strong>Spuren</strong>lesers i.e.S. aus historischen Zeichen,<br />

aus <strong>Spuren</strong> i.e.S. besteht <strong>und</strong> eine <strong>Spuren</strong>-<strong>und</strong>-Geschichten-Welt ist. In diesem<br />

Fall aber ist die Lesart als historisches Zeichen, wie wir gleich sehen werden, nicht nur<br />

eine Alternative unter einem alternativen Erkenntnisinteresse, sondern die realistischere,<br />

<strong>und</strong> d.h. hier auch: fruchtbarere Lesart, genau der gleichen Fakten. Sie kann sich auf<br />

Geländeindizien stützen.<br />

Die Artenliste einer Vegetationsaufnahme allerdings braucht diese Indizien nicht zu<br />

enthalten, wenigstens dann nicht, wenn diese Bestandsaufnahme wie üblich keine<br />

durchgehenden <strong>und</strong> detaillierten Angaben über Vitalitäten <strong>und</strong> Wuchsformen enthält.<br />

Diese Indizien beruhen auf der Tatsache, daß in einer Phytozönose nicht nur die vorliegenden<br />

»genotypischen Anpassungen« der Vegetation an den Standort (z.B. die Artengarnitur)<br />

etwas bedeuten können, sondern auch die phänotypischen Anpassungen (z.B.<br />

die vorliegende Wuchsformen <strong>und</strong> Vitalitätsgrade bestimmter Arten). In diesem Mäusegersterasen<br />

zeigt der vor allem vegetativ vitale Wuchs gerade der Trittrasen-Arten<br />

(Plantago major, Trifolium repens, Lolium perenne ...), daß schon lange nicht mehr betreten<br />

worden ist. Auf der Basis dieser Beobachtung kann man sagen: Der gegenwärtige,<br />

nicht mehr betretene Mäusegerste-Rasen signifiziert einen ehemaligen Trittrasen,<br />

der einmal betreten worden ist (sonst wären die trittresistenten Arten nicht so ab<strong>und</strong>ant),<br />

der »mit der Zeit« aber zu einem praktisch nicht mehr betretenen Mäusegersterasen<br />

geworden ist (denn unter Tritt sehen die Trittrasen-Arten ganz anders aus).<br />

Wie also wird über dem gleichen Gegenstand, der schon für ein diagnostisches Zeichen<br />

gut war, ein historisches Zeichen konstituiert? Dadurch, daß der <strong>Spuren</strong>leser die<br />

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