Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium
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Das Spiel Lönnrots könnte (wie Eco 1990 vermerkt) nur aufgehen in einer Welt, wo<br />
Denken <strong>und</strong> Sein identisch sind, wo »ordo et connexio rerum idem est ac ordo et connexio<br />
idearum« (Spinoza); nur in der Welt <strong>des</strong> subjektiven Idealismus wäre die schöne<br />
Geschichte auch unmittelbar eine schöne Wirklichkeit. Der ästhetisierende Idealist versucht<br />
die alte <strong>und</strong> vergangene Einheit der Welt, die Einheit von Denken <strong>und</strong> Sein – diese<br />
alte Basis <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesens <strong>und</strong> der Lesbarkeit der Welt – auf seine Art wiederherzustellen.<br />
Aus den alten Gedanken, daß die Essenz der Welt die Ideen sind <strong>und</strong> die Welt<br />
letztlich aus Gottes Gedanken besteht, schlüpft der moderne Gedanke (oder auch nur<br />
die vorbewußt-unbedachte Maxime), daß die Welt eigentlich aus den Ideen <strong>des</strong> Subjekts<br />
über die Welt besteht.<br />
Die Dichtung von Borges wiederum kann man weithin auffassen als die poetische<br />
Ausschöpfung der ästhetischen Qualitäten <strong>des</strong> idealistischen Denkens, ein Denken, in<br />
dem ja bestimmte Voraussetzungen ästhetischer Erfahrung – die assimilierende Umweltzuwendung,<br />
die Ich-Nähe der Welt <strong>und</strong>, wenn man so will: die Tagträumerei <strong>und</strong><br />
die Abduktion auf den Traum hin – zum Prinzip erhoben werden.<br />
Eben <strong>des</strong>halb nennt Eco das <strong>Spuren</strong>lesen Lönnrots nicht nur eine Abduktion, sondern<br />
auch eine »Abduktion in Uqbar« (Eco 1990, S. 200ff.). Uqbar ist ein Phantasieland<br />
in Borges' phantastischer Länderk<strong>und</strong>e, wo man lehrt, daß die sichtbare Welt »eine<br />
Illusion«, ja ein »Sophismus« sei, <strong>und</strong> in Tlön gar, einem Produkt der Dichter Uqbars,<br />
ist, wie Borges es schreibt, »die Idee eines einzigen Subjekts allbeherrschend«. Aber<br />
leider, »niemand war je in Uqbar gewesen« – <strong>und</strong> noch weniger jemand in Tlön, wo die<br />
Metaphysiker (wieder nach Borges) nicht die Wahrheit, sondern das »Erstaunen« suchen.<br />
So war Lönnrot einer, der das Erstaunliche liebte <strong>und</strong> in Tlön zu leben versuchte.<br />
Man sieht nun auch, warum solche <strong>Spuren</strong>leser ihrer Sache (d.h. hier: ihrer ebenso<br />
kontrafaktischen wie subjektiv befriedigenden Abduktionen) so sicher sind <strong>und</strong> ihnen<br />
schließlich auch noch »treu bis zum Tode« sein können. Das ist bekanntlich auch ein<br />
Muster in Wissenschaftler- <strong>und</strong> Wissenschaftsgeschichten. Die Therapie besteht darin,<br />
den ästhetischen Idealismus in ihnen zu bemerken, der, weil seine schönen bis schrecklich-schönen<br />
Ideen meistens sehr alten Mustern folgen, meistens auch ein ästhetischer<br />
Historismus ist.<br />
Man sieht aber nun auch deutlicher, wie die <strong>Spuren</strong>leser <strong>und</strong> ihre Abduktionen in<br />
Borges' Kriminalgeschichten konstruiert sind (aber auch viele anderen klassischen Kriminalgeschichten,<br />
z.B. die vom Father Brown). Man kann dieses Konstruktionsprinzip<br />
wohl so beschreiben: Alles was geschieht, ist die Inszenierung einer Idee, auch <strong>und</strong> gerade<br />
das, was der Mörder tut. Der Detektiv muß diese Idee <strong>und</strong> ihre ästhetische Logik<br />
verstehen; dann kann er hingehen <strong>und</strong> den Mörder erwarten. Doch – <strong>und</strong> das ist eine<br />
weitere Drehung der hermeneutischen Spirale in dieser Welt aus schönen Ideen <strong>und</strong><br />
Geschichten: Wenn der Detektiv das kann, dann kann das auch der Mörder; dann kann<br />
auch der Mörder hingehen <strong>und</strong> den Detektiv erwarten. In der Wissenschaft erwartet so<br />
der gute Kritiker den schlechten Empiriker, dann der bessere Empiriker den nicht ganz<br />
so guten Kritiker – usw. Die Wissenschaft enthält also die gleiche <strong>Ästhetik</strong> (als Gr<strong>und</strong>lage<br />
ihrer Autopoiesis), nur daß sie immer wieder aufgehoben wird.<br />
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