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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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ihn auch gar nicht weiter, <strong>und</strong> er schaute sie sich dann auch gar nicht mehr näher an<br />

(obwohl die Untersuchung <strong>des</strong> verwendeten Baumaterials für Datierung <strong>und</strong> Authentizitätsnachweise<br />

eigentlich unbedingt nötig gewesen wären). Erst viel später kam Jörn<br />

wieder auf die »Mauer«, überhaupt auf die physisch-materielle Russenbaracken-Spur<br />

zurück: Als er bei Stadtverwaltung <strong>und</strong> Lokalpolitikern dafür plädierte, ein Stück dieser<br />

»Mauer« nach dem zu erwartenden Abräumen der Kleingärten als Erinnerungsstütze<br />

(zu einer Art Mahnmal) zu institutionalisieren – die materielle Spur also im Wortsinne<br />

zu monumentalisieren. Noch viel später, als die Interviewerin ihn fragte, ob genau diese<br />

Mauerreste denn auch wirklich »Russenbaracken« seien <strong>und</strong> ob das »nicht auch eine<br />

Geschichte oder Sage sein könnte, die um diese Mauern herum gesponnen wurde«,meint<br />

Jörn nach einigen Überlegungen: »Jetzt, an dieser Stelle, ob die Mauer nun<br />

authentisch ist, das kann ich so h<strong>und</strong>ertprozentig natürlich nicht sagen. Ich hab das<br />

nicht untersucht.« So wenig bedeutete ihm die materielle Spur selber.<br />

Aber auch das Sichern von Sprach-<strong>Spuren</strong> (<strong>und</strong> überhaupt von immateriellen <strong>Spuren</strong>)<br />

ist »<strong>Spuren</strong>lesen«, <strong>und</strong> es dürfte furchtbarer (vielleicht auch häufiger) sein, als man<br />

gewöhnlich glaubt. Wie Historiker traditionellerweise vielleicht zu sehr auf Texte bzw.<br />

schriftliche, »papierene« Quellen blicken, so sind die <strong>Spuren</strong>leser oft zu sehr auf<br />

»dingliche Überreste« fixiert (<strong>und</strong> achten zu wenig auf »abstrakte« Überreste in der<br />

Sprache, in Institutionen, Namen, Verhaltensweisen usf.). Man darf sogar vermuten,<br />

daß ein <strong>Spuren</strong>leser leicht auch da, wo er eigentlich nicht-materielle <strong>Spuren</strong> auflas,<br />

spätestens in der Retrospektive daraus sozusagen solide dingliche <strong>Spuren</strong> macht. Das<br />

zitierte <strong>Spuren</strong>lesen an »Russenbaracken« war ein deutlicher Beleg.<br />

Die Geschichte hat noch eine andere Pointe. Ich selber hatte mich bei der Vorbereitung<br />

der Veranstaltung auf dem gleichen Gelände herumgetrieben (sozusagen, um die<br />

<strong>Spuren</strong> ad usum delphini zu präparieren), <strong>und</strong> dabei war ich mit dem gleichen Kleingärtner<br />

ins Gespräch gekommen. Ich war an seinen Kulturpflanzen <strong>und</strong> Unkräutern, vor<br />

allem an seiner Ethnobotanik sowie an seiner Wirtschaftsweise interessiert, <strong>und</strong> in eben<br />

diesem Zusammenhang fiel auch das Wort »Russenbaracke«. Das hatte ich aber völlig<br />

vergessen, <strong>und</strong> erst, als ich die Ausarbeitung der Studenten las, fiel es mir wieder ein.<br />

Was mich angeht, so wäre diese Spur spurlos verschw<strong>und</strong>en. Das Wort »Russenbaracke«<br />

hatte in diesem Fall keine Chance, zur Spur, d.h. zur Pointe einer Geschichte<br />

zu werden. Ich war ja auch auf einer ganz anderen Fährte.<br />

Die beschrieben <strong>Spuren</strong>sicherung ist gut geeignet, noch einmal einige zentrale Sachverhalte<br />

vor Augen zu rücken, z.B.:<br />

– daß »Geschichte« eine Konstruktion aufgr<strong>und</strong> von <strong>Spuren</strong> ist: pas de traces, pas d'histoire(s)<br />

– wo keine <strong>Spuren</strong>, da keine Geschichte(n);<br />

– daß aber auch das Umgekehrte gilt: Pas d'histoire(s), pas de traces – wo keine Geschichte(n),<br />

da keine <strong>Spuren</strong>;<br />

– daß schon die Wahrnehmung der <strong>Spuren</strong> ein höchst selektiver, aktiver, konstruktiver,<br />

ja projektiver Vorgang ist (<strong>und</strong> die Vergangenheit folglich ein Konstrukt aus<br />

Konstrukten);<br />

– daß eine Spur oft mehr mit dem <strong>Spuren</strong>leser als mit der Realität zu tun hat<br />

– daß <strong>Spuren</strong> nicht ganz selten zu einem hohen Anteil auch ein Produkt <strong>des</strong> »forschenden<br />

Unbewußten« sind.<br />

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