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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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Im Lauf einer solchen zirkulär-kumulativen Ästhetisierung gleitet man leicht in eine<br />

stark assimilierende Gegenstands- <strong>und</strong> Welterfahrung hinein <strong>und</strong> damit in einen ästhetisch<br />

beschwingten, <strong>des</strong>kriptiven <strong>und</strong> theoretischen Leichtsinn (der vom Betroffenen<br />

natürlich gerade nicht als »ästhetisch«, sondern als vollkommen sachgerecht, ja als paradigmengerecht<br />

empf<strong>und</strong>en wird). Dieser epistemische oder kognitive Leichtsinn, den<br />

man ein Kuppelprodukt der ästhetischen Erfahrung nennen kann, ist durchaus lustvoll,<br />

aber auch gefährlich, zuweilen für andere oder für ganze Gesellschaften, glücklicherweise<br />

aber oft nur für den Wissenschaftler selber. Was es an ästhetischer Erfahrung <strong>und</strong><br />

an ästhetischem Genuß gewinnt, verliert sein Denken dabei an Wirklichkeitssinn <strong>und</strong><br />

Erkenntniswert: Sein Ästhetisieren (welches meistens ein ästhetischer Historismus ist)<br />

macht ihn dumm. Der Showdown in der zitierten Geschichte gewinnt seinen Reiz wohl<br />

nicht zuletzt aus der Überdramatisierung <strong>und</strong> Heroisierung dieser Selbstgefährdung <strong>des</strong><br />

<strong>Spuren</strong>lesers durch schönen Schein: Am Ende steht nicht bloß eine Blamage, sondern<br />

der Tod. 84<br />

Aber diese Gefahr hat auch eine positive <strong>und</strong> höchst produktive Seite: Ohne diese<br />

gefährlichen Reize hätte der <strong>Spuren</strong>leser sich nicht zu dieser Spur <strong>und</strong> der produktive<br />

Wissenschaftler sich nicht zu seinem Gegenstand herabgelassen, <strong>und</strong> ohne deren zirkulär-kumulative<br />

Ästhetisierung durch oft sehr irreführende schöne Geschichten wären sie<br />

zumin<strong>des</strong>t auf die Dauer nicht bei ihrer Sache geblieben. Die Erkenntnisprozesse kommen<br />

nur in Gang <strong>und</strong> bleiben nur in Gang, wenn die ästhetische Erfahrung einbezogen<br />

ist <strong>und</strong> einbezogen bleibt, aber die Erkenntnisprozesse bleiben nur Erkenntnisprozesse,<br />

wenn die Inhalte der ästhetischen Erfahrung zugleich auch abgewehrt werden. Man<br />

muß die Sirenen singen lassen, aber darf ihnen nicht glauben <strong>und</strong> folgen.<br />

<strong>Spuren</strong>lesen oder »<strong>Spuren</strong>sicherung« als Kunst kann <strong>und</strong> muß anders vorgehen: Die<br />

ästhetischen Reize <strong>und</strong> Träumerein nicht abwehren, sondern kommen lassen, reinigen,<br />

entfalten <strong>und</strong> autoreferentiell strukturieren. Einigen Künstlern dieser Kunstrichtung<br />

scheint dies tatsächlich gelungen zu sein (vgl. z.B. Metken 1977).<br />

Sicherlich gibt es keine direkt anwendbare Faustregel, wie man die ästhetische Erfahrung<br />

bewahrt, ohne zugleich ihren Inhalten zu verfallen. Immerhin ist es ein guter<br />

Vorsatz in diese Richtung, sich (1.) dieser ästhetischen Einschläge von Zeit zu Zeit bewußt<br />

zu werden, indem man sie direkt thematisiert, <strong>und</strong> sich (2.) eines zwar intimen,<br />

aber ironischen Umgangs mit ihnen zu befleißigen.<br />

»Ironie« ist hier in einem speziellen Sinn gemeint, der aber doch im Rahmen <strong>des</strong>sen<br />

bleibt, was man überhaupt sinnvoll als »Ironie« bezeichnen kann: Etwas sagen <strong>und</strong> auf<br />

durchsichtige Weise etwas anderes, sogar Gegenteiliges meinen oder mitmeinen. Sie<br />

hat hier jedoch nicht den Zweck, jemanden zu verspotten (oder gar zu täuschen), aber<br />

auch nicht den Zweck, den die rhetorische Figur »Ironie« verfolgt, nämlich öffentliche<br />

oder gerichtliche Zustimmung zu gewinnen, überhaupt seine eigene Sache zu stützen.<br />

Sie dient hier vielmehr dazu, eine bestimmte Distanz anzuzeigen, nämlich die Distanz<br />

84 Das bekannte: »Laßt <strong>Theorie</strong>n statt Menschen sterben« (welches seinerseits dagegen opponiert, daß Menschen<br />

für <strong>Theorie</strong>n sterben wollen, sterben sollen oder sterben müssen) wird tödlich präzisiert oder »hinaufexistentialisiert«<br />

zu einem »Laßt die Theoretiker mit ihren <strong>Theorie</strong>n«, oder noch besser: »an ihren <strong>Theorie</strong>n<br />

sterben«. Jedenfalls bezahlt der Theoretiker selber <strong>und</strong> mit höchstem Preis <strong>und</strong> (in der Geschichte) wie<br />

einverstanden damit, so zur Verantwortung gezogen zu werden.<br />

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