06.12.2012 Aufrufe

Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Wahrsager ab, die sich bemühen, die von Göttern in Stein <strong>und</strong> Himmel geschriebenen<br />

Botschaften zu lesen, <strong>und</strong> Jäger <strong>des</strong> Neolithikums (!)« (Ginzburg 1980, S. 26).<br />

Die Metaphern, mit denen der Autor <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts (Émile Gaboriau) die <strong>Spuren</strong>sicherung<br />

seines Helden Lecoq belegt, zeigen, daß auch er es schon so ähnlich sah.<br />

Von solcher Metaphorik her kommt wohl auch Ginzburgs epistemologische Inspiration.<br />

Lecoq, heißt es bei Gaboriau, studierte die <strong>Spuren</strong> »avec l’attention d’un chiromancien«<br />

(eines Chiromantikers, also eines Physiognomikers i.w.S.), oder: er studierte sie mit<br />

mehr Beweglichkeit <strong>und</strong> Behendigkeit als ein Jagd- oder Spürh<strong>und</strong>.<br />

Ginzburg bezeichnet dieses »Paradigma« (diesen Wissens- <strong>und</strong> Forschungstyp) je<br />

nach dem Kontext mit Semiotik-, <strong>Spuren</strong>-, Symptome-, Indizien-, Jäger- <strong>und</strong> Wahrsage-<br />

Paradigma. Sein Kern bestehe darin, daß eine komplexe Realität, die nicht direkt erfahrbar<br />

sei, aus Indizien/<strong>Spuren</strong>/Symptomen (re)konstruiert werde, <strong>und</strong> im typischen<br />

Fall organisiere »der Beobachter die Daten so, daß Anlaß für eine erzählende Sequenz<br />

besteht«, die im einfachsten Fall so lautet: »Jemand ist dort vorbeigekommen <strong>und</strong> hat<br />

das <strong>und</strong> das getan«. Das kann man leicht auch mit den Mitteln der Semiotik formulieren.<br />

Wenn man sich in der wissenschaftstheoretischen Literatur (im weitesten Sinn) umsieht,<br />

dann sieht man, daß eine solche <strong>Spuren</strong>dekodierung eine ähnliche Form wie eine<br />

sogenannte narrative Erklärung hat, <strong>und</strong> weil es sich (vereinfacht gesagt) um einen<br />

»Schluß« von der Wirkung auf die Ursache handelt, handelt es sich gleichzeitig um eine<br />

Abduktion. Darauf komme ich zurück.<br />

Für Ginzburg ist dieses »indizienwissenschaftliche Paradigma« zugleich uralt <strong>und</strong><br />

brandneu. »Schon jetzt kann man jedenfalls feststellen, daß sich der Kriminalroman auf<br />

ein sehr altes <strong>und</strong> zugleich sehr modernes Erkenntnismodell stützt« (1980, S. 24). Nicht<br />

nur der jägerische <strong>und</strong> der detektivische Wissenstyp, sondern auch der Wissenschaftstyp<br />

der Wahrsager habe diese Struktur, <strong>und</strong> er betont, daß auch für das <strong>Spuren</strong>lesen in<br />

der Wahrsagerei gerade alltagsweltliche, ja »niedere« Medien wichtig waren (Kot,<br />

Asche, Mißgeburten, Handlinien, Pickel, Innereien, Federn, Haare, Öltropfen im Wasser<br />

...). Hierher gehören nach Ginzburg aber auch so unterschiedliche Dinge wie der<br />

klinische Blick auf den Kranken oder der Blick <strong>des</strong> Kenners auf das Kunstwerk. Die<br />

ganze Medizin als Kunst <strong>des</strong> Diagnostizierens <strong>und</strong> Heilens (nicht aber die Medizin als<br />

Naturwissenschaft!) gehöre hierher. Das gleiche gelte für Wissenschaften, die eine »retrospektive<br />

Wahrsage«, eine vergangenheitsbezogene Wahrsagung betreiben: »Zutiefst<br />

diachronisch geprägte Wissenschaften, wie die eben genannten (Geschichtsschreibung,<br />

Archäologie, historische Geologie, Paläontologie ...), mußten sich, da sie das Galileische<br />

Paradigma als untauglich ablehnten, an ein Indizien- oder Wahrsageparadigma<br />

halten ... Wenn man die Ursachen nicht reproduzieren kann, bleibt nichts anderes übrig,<br />

als sie aus ihren Wirkungen zu folgern.« (Ginzburg 1980, S. 25).<br />

Heute sieht Ginzburg dieses Semiotik-, <strong>Spuren</strong>- oder Indizienparadigma aber vor allem<br />

in folgenden Bereichen auf breiter Front weiterleben: Erstens in modernen Formen<br />

staatlicher Kontrolle (vom konventionellen bis zum genetischen Fingerabdruck). Zweitens<br />

im oft »stummen Erfahrungswissen« der Alltags- oder Lebensweltler, z.B. im<br />

weltweiten Wissen »der Jäger, der Seeleute, der Frauen«. Es sei der Erfahrungs-, Wissens-<br />

<strong>und</strong> Forschungstyp aller, die kompetent – mit »Spürsinn, Augenmaß <strong>und</strong> Intuition«<br />

– das Ihre tun; »zerstreutes Bildungsgut von Männern <strong>und</strong> Frauen aller Klassen«.<br />

45

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!