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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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über die altberühmten Breccien im Bereich <strong>des</strong> Nördlinger Rieses zitiert werden (vgl.<br />

Gall, H., Müller, L. <strong>und</strong> Stoffler, D.: Verteilung, Eigenschaften <strong>und</strong> Entstehung der<br />

Auswurfmassen <strong>des</strong> Impaktkraters Nördlinger Ries, in: Geologische R<strong>und</strong>schau 64,<br />

1975, S. 915ff.). Diese Breccien gelten seit alters als interessante <strong>und</strong> merkwürdige, ja<br />

rätselhafte <strong>und</strong> faszinierende <strong>Spuren</strong> der Erdgeschichte, die schon auf die unterschiedlichste<br />

Weise abduktiv-narrativ gelesen wurden (unter anderm als ein Explosions-, ein<br />

Vergletscherungs- <strong>und</strong> ein Großmeteoriteneinschlageffekt): Attraktive <strong>Spuren</strong> erkennt<br />

man ja nicht zuletzt daran, daß sie Bezugspunkte vieler attraktiver Geschichten <strong>und</strong><br />

<strong>Theorie</strong>n werden. Auch in der genannten Publikation von 1975 geht es wieder (wie<br />

schon so oft) um abduktiv-narratives Lesen dieses faszinierenden Phänomens: Die Autoren<br />

erzählen seine singuläre Geschichte, erstens seine Entstehungsgeschichte, zweitens<br />

seine spätere Veränderungsgeschichte, <strong>und</strong> zwar erzählen sie die (in diesem Zusammenhang<br />

interessantere) Entstehungsgeschichte nun im Lichte der Impakthypothese<br />

<strong>und</strong> die (in diesem Zusammenhang weniger interessante) Veränderungsgeschichte im<br />

Lichte <strong>des</strong> geologischen Wissens über spätere Abtragungsvorgänge.<br />

Heute ist das aber wohl nicht mehr der Normalfall bedeutender geowissenschaftlicher<br />

– <strong>und</strong> nicht einmal mehr der Normalfall bedeutender historisch-geologischer Publikationen.<br />

Hier geht es meistens längst nicht mehr um den ungewöhnlichen, singulären<br />

Bef<strong>und</strong>, die Spur selber. Das dürfte die Folge steigender Theoretisierung sein, sei es<br />

Theoretisierung auf dem Weg der Bildung von Eigentheorien, sei es Theoretisierung<br />

auf dem Weg <strong>des</strong> Konsums von disziplinextern gebildeten, meist physikalischen <strong>und</strong><br />

chemischen <strong>Theorie</strong>n. Vor allem zu den »Eigentheorien« gehören auch sog. »Entwicklungsgesetze«<br />

oder »Entwicklungstheorien«, d.h. Vorstellungen über langdauernde <strong>und</strong><br />

irreversible Veränderungen großräumiger geologischer Konstellationen.<br />

Je stärker eine Disziplin in dieser Richtung fortschreitet, umso weniger kann es in<br />

den Augen der Disziplinangehörigen der eigentliche <strong>und</strong> eigentlich wertvolle Sinn ihrer<br />

Disziplin <strong>und</strong> ihrer Forschung sein, alle möglichen Einzelphänomene auf ihre Ursachen<br />

zurückzuführen – oder auch nur die Geschichte aller noch nicht interpretierten Einzelphänomene<br />

zu erzählen, so interessant, spektakulär oder faszinierend sie in anderen<br />

Hinsichten auch sein mögen. Dieser Fortgang von mehr spurenlesender zu stärker theorietestender<br />

<strong>und</strong> theorieausbauender Tätigkeit scheint eine allgemeine Entwicklungsregel<br />

zu sein – wenngleich nicht alle Disziplinen diesen Weg gleich schnell <strong>und</strong> gleich<br />

weit gehen können. Je länger je mehr werden dann nur noch <strong>Spuren</strong> gelesen, die in irgendeiner<br />

Hinsicht oder Merkmalsdimension theoretisch bedeutsam zu sein scheinen.<br />

Das könnte man ein von <strong>Theorie</strong>n, von theoretischen Interessen »beauftragtes« <strong>Spuren</strong>lesen<br />

nennen, bei dem <strong>Spuren</strong> <strong>und</strong> <strong>Spuren</strong>lesen zu Funktionen von <strong>Theorie</strong>n werden<br />

<strong>und</strong> das Interesse an den <strong>Spuren</strong> selber zurücktritt (oder nur noch als persönliche Präferenz<br />

weiterlebt). Der <strong>Spuren</strong>leser ist dann nicht von der Spur, sondern eher von einer<br />

<strong>Theorie</strong> oder »großen Geschichte« fasziniert, also weniger ein <strong>Spuren</strong>leser i.e.S. als ein<br />

<strong>Theorie</strong>tester, <strong>Theorie</strong>erweiterer <strong>und</strong> <strong>Theorie</strong>anwender. Die Faszination an der Spur<br />

selber ist dann höchstens noch ein privater Tick zweiten Gra<strong>des</strong>, eine etwaige persönliche<br />

Präferenz, die für den Forschungsgang <strong>und</strong> sogar für die Forschungsheuristik (fast)<br />

ohne Belang ist.<br />

Das gilt heute wohl für jede bedeutendere historisch-geologische Forschung. Um es<br />

an einem beliebigen Beispiel zu illustrieren, das ich wieder der »<strong>Theorie</strong> der Geowis-<br />

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