Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium
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sens« (irgendwie, unbewußt <strong>und</strong> implizit, enthält der Forscher/<strong>Spuren</strong>leser schon den<br />
Sinn). Nur über den eigenen Kontext seien traditionale Bedeutungen zugänglich, wenn<br />
überhaupt. Es sei wie im Kriminalroman (!): Das Rätsel <strong>und</strong> die Frage selber enthalten<br />
schon einen großen Teil der Geschichte. Man dürfe nicht vergessen, daß der <strong>Spuren</strong>leser<br />
sich »seine« <strong>Spuren</strong> suche. Der Historiker/<strong>Spuren</strong>sucher projiziere <strong>und</strong> kompensiere<br />
sich beim <strong>Spuren</strong>lesen selber, suche also, was er irgendwie schon kenne; er wolle auf<br />
der Ebene der Imagination seine intim vertrauten Obsessionen wiederfinden <strong>und</strong> bewältigen.<br />
Auf diese im weitesten Sinne ästhetischen Funktionen <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesens<br />
komme ich zurück.<br />
Das alles ist natürlich kein Freibrief für Obsessionen in der Wissenschaft <strong>und</strong> für obsessives<br />
<strong>Spuren</strong>lesen. Der Methodologe <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesens formuliert vielmehr im Gr<strong>und</strong>e<br />
nur ein Gr<strong>und</strong>prinzip der Hermeneutik: Auch die objektivste Erkenntnis bedarf bestimmter<br />
Subjekte, <strong>und</strong> es gibt auf diesem Feld keine Gegenstandserkenntnis ohne<br />
Selbsterkenntnis, keine Objektivität ohne Erkenntnis <strong>des</strong> Subjektiven. Auf die tracéologie<br />
angewendet heißt das auch, daß der <strong>Spuren</strong>leser die ihm mögliche Objektivität nie<br />
ganz ohne Selbstreferenz, d.h. ohne Referenz auf das Subjekt <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesens erreichen<br />
kann.<br />
Oft wird das Gemeinte in schöner Literatur am prägnantesten formuliert. In den<br />
»Marmorklippen« von Ernst Jünger wird ein Wissenschaftler beschrieben, der die Voraussetzungen<br />
seiner <strong>Spuren</strong>suche nicht kennt:<br />
»Er war ein kleiner, dunkler, hagerer Geselle, den wir ein wenig grobdrähtig<br />
fanden, doch wie alle Mauretanier nicht ohne Geist (...). Auch lebte er, wie jeder<br />
grobe Theoretiker, vom Zeitgemäßen in der Wissenschaft <strong>und</strong> trieb besonders die<br />
Archäologie. Er war nicht fein genug, zu ahnen, daß unser Spaten unfehlbar alle<br />
Dinge findet, die uns im Sinne leben.«(1981, S. 89f.)<br />
Ein so »grobdrähtiger« oder »grober Theoretiker« darf der <strong>Spuren</strong>leser nicht sein, <strong>und</strong><br />
eine Metatheorie wie die »Théorie de la trace« kann ihn schützen. Bezeichnenderweise<br />
verfällt der »grobe Theoretiker« notwendig dem Zeitgeist, weil er in seinen »objektiven<br />
Daten« <strong>und</strong> <strong>Spuren</strong> das »Subjektive« (nämlich das bloß »Zeitgemäße«) nicht erkennen<br />
kann.<br />
Mit »Subjekt« <strong>und</strong> »Subjektivität« ist also auch am wenigsten etwas bloß Intimes<br />
gemeint. »Subjektbezug« meint vor allem: Bezug auf die semantische <strong>und</strong> soziale Welt,<br />
in der der <strong>Spuren</strong>leser lebt <strong>und</strong> <strong>Spuren</strong> sucht <strong>und</strong> interpretiert, denn nur von daher kann<br />
er, wie gesagt, seine Interpretationen konstruieren.<br />
D’Haenens verdeutlicht das in einer Skizze, die ich als Abb. 10 in veränderter Weise<br />
darstelle. Sie stellt den zentralen Sachverhalt <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesens dar: die Semiose (den<br />
signifikatorischen Akt) beim <strong>Spuren</strong>lesen <strong>und</strong> die Bedeutung der Spur gibt es nur aufgr<strong>und</strong><br />
der Initiative, der Sympathie, der Imagination, <strong>des</strong> Lebens <strong>und</strong> der Biographie<br />
<strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesers. »L’histoire est inséparable de l’historien ...« (die Geschichte ist untrennbar<br />
vom Historiker). Kurz, die Spur ist die Spur eines <strong>Spuren</strong>lesers. <strong>Spuren</strong>/ Signifikanten<br />
gibt es nur, weil es <strong>Spuren</strong>leser gibt. Wie Gegenstände oder Tatsachen, so bedeuten<br />
auch <strong>Spuren</strong>/Signifikanten von sich aus, ohne einen <strong>Spuren</strong>leser, noch gar<br />
nichts. (Nur Menschen bedeuten schon von sich aus etwas, <strong>und</strong> zwar, weil sie sich<br />
selbst deuten.)<br />
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