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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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Ebene der physisch-materiellen Gegenstände benutzt man (deterministische oder probabilistische)<br />

Kausalerklärungen (d.h., man erklärt die Ereignisse wo möglich mit Hilfe<br />

von Gesetzmäßigkeiten <strong>und</strong> Randbedingungen in der physisch-materiellen Welt); auf<br />

der Handlungsebene benutzt man wo möglich intentionale Erklärungen (mittels hypothetischer<br />

Absichten <strong>und</strong> Situationswahrnehmungen bzw. Situationseinschätzungen von<br />

Akteuren). Wenn man beliebte Formeln benutzen will, kann man sagen: Auf der einen<br />

Interpretationsebene rückt das Geschehen in »objektive Zusammenhänge« ein, d.h. in<br />

naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten oder in common-sense-Regeln über das<br />

Funktionieren der physischen Welt. Auf der anderen Ebene rückt das Geschehen in<br />

»subjektive Sinnzusammenhänge« (Handlungszusammenhänge) ein. Beide Ebenen<br />

werden vom <strong>Spuren</strong>leser, Interpreten <strong>und</strong> Erzähler durch die common-sense-Metaregel<br />

verb<strong>und</strong>en, daß Absichten <strong>und</strong> Handlungen ihre Konsequenzen in der physischmateriellen<br />

Welt haben, wenn auch meistens nicht (nur) die beabsichtigten Konsequenzen.<br />

Daraus folgt, daß Abduktionen auf Intentionen oder auf intentionale (Handlungs-)<br />

Erklärungen gr<strong>und</strong>sätzlich nicht ausreichen, um <strong>Spuren</strong> zu lesen bzw. um die Geschichte<br />

zu konstruieren, die von einem spurenlosen Substrat zu einem mit <strong>Spuren</strong> gespickten<br />

Substrat führte. <strong>Spuren</strong> sind (wie fast alles Geschichtliche) gerade keine ausgeführten<br />

Absichten oder »Erfüllungen von Intentionen«. Auch in den Situationswahrnehmungen<br />

<strong>und</strong> Situationseinschätzungen der Handelnden brauchen diese <strong>Spuren</strong> überhaupt nicht<br />

vorzukommen. (Der ertappte Verbrecher ist im nachhinein oft sehr überrascht, daß er<br />

Bausteine zu einem Indizienbeweis hinterlassen hat, <strong>und</strong> die Schüler einer Schule sind<br />

oft sehr überrascht, daß ihr »verborgenes« Pausenverhalten so viel unverkennbare<br />

<strong>Spuren</strong> erzeugt hat.) Der berühmten Asymmetrie von historischen Intentionen <strong>und</strong><br />

historischen Resultaten entspricht die Asymmetrie zwischen Handlungsabsichten <strong>und</strong><br />

Handlungsspuren.<br />

2.7 Eine ausgearbeitete »Théorie de la trace«: Geschichtswissenschaft als<br />

<strong>Spuren</strong>lesen<br />

In der Geschichtswissenschaft spielt der Terminus »Spur« traditionell keine wesentliche<br />

Rolle. Es scheint aber möglich zu sein, die Methodologie der Geschichtswissenschaft so<br />

zu formulieren, daß der Begriff »Spur« in den Mittelpunkt rückt. Eine solche Konstruktion<br />

findet man in der »Théorie de la Trace« <strong>des</strong> belgischen Historikers d’Haenens.<br />

Die <strong>Theorie</strong>, Methodologie <strong>und</strong> Methodik der Geschichtswissenschaft – durchaus das,<br />

was auch andere Einführungen in die Geschichtswissenschaft behandeln – wird hier<br />

ganz vom Begriff »Spur« her aufgebaut. Dies geschieht im wesentlichen mit einfachen<br />

semiotischen Mitteln.<br />

Vermutlich werden Historiker dies in gewissem Sinne überflüssig finden. Denn inhaltlich<br />

kommt wohl kaum etwas Neues hinzu, <strong>und</strong> die neuartige Konstruktion vom<br />

Gr<strong>und</strong>begriff »Spur« her bewirkt wahrscheinlich, daß dem Insider auch vieles aus der<br />

traditionellen Terminologie Wohlbekannte nun allzu »gekünstelt« umformuliert <strong>und</strong><br />

terminologisiert erscheint. Wer an einer »<strong>Theorie</strong> der Spur <strong>und</strong> <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesens« interessiert<br />

ist, findet aber in dieser geschichtswissenschaftlich orientierten »Théorie de la<br />

Trace« sehr viel: Erstens eine Bestätigung für die theoretische Fruchtbarkeit <strong>des</strong> Begriffs<br />

»Spur«; zweitens aber auch wichtige inhaltliche Bereicherungen. Zum Beispiel<br />

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