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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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lich auch für die moderne Semiotik eine spezielle Sorte von Zeichen (vgl. z.B. Eco<br />

1977).<br />

Das ist eine sehr alte Betrachtungsweise der Natur. Nicht selten waren diese Lesarten<br />

auch religiös geprägt, so daß die dechiffrierte Landschaft als eine Spur oder ein Wink<br />

<strong>des</strong> Schöpfers gesehen wurde. Was man in der Natur sah, waren Symbole, Embleme,<br />

Signaturen <strong>und</strong> »<strong>Spuren</strong>«, durch die Gott sprach, in <strong>und</strong> mittels der Natur. In diesem<br />

Sinne spricht die Natur nicht mehr so unmittelbar zu uns – zumin<strong>des</strong>t nicht mehr in der<br />

Wissenschaft.<br />

<strong>Zur</strong> geistesgeschichtlichen Einordnung <strong>des</strong> Bil<strong>des</strong> <strong>und</strong> seines »vormodernen« Naturforschers<br />

muß man vielleicht noch Folgen<strong>des</strong> hinzufügen: Sie fallen ins sogenannte<br />

emblematische Zeitalter. Die Gedankenwelt hinter den »Emblemen« (etwa die Konstruktion<br />

eines m<strong>und</strong>us symbolicus, in dem alles Signatur, alles lesbar ist) darf wohl<br />

nicht einfach als »vormodern« gedeutet werden. Es ist vielleicht eher, jedenfalls auch<br />

ein neuzeitlicher Versuch, der beginnenden ökonomischen <strong>und</strong> wissenschaftlichen<br />

Neuzeit geistigen Widerstand <strong>und</strong> eine Art Utopie entgegenzusetzen, die auf vormoderne<br />

Vorstellungen zurückgreift (vgl. Henkel <strong>und</strong> Schöne 1967). Dann hätte das alles<br />

(wie später die »Landschaft«) vielleicht von vornherein etwas von einer Konstruktion<br />

<strong>und</strong> Kompensation an sich gehabt, <strong>und</strong> dann wäre auch der alte Naturforscher von Anfang<br />

an eine zugleich moderne <strong>und</strong> nostalgische Figur sowie ein direkter Vorgänger der<br />

heutigen »Alternativwissenschaften«, die so gern auf alte Weisheiten zurückgreifen,<br />

<strong>und</strong> vielleicht auch, wenngleich auf andere Weise, eine Vorprägung der spurenlesenden<br />

Laien- <strong>und</strong> Alltagswissenschaften von heute.<br />

Man kann diese Allegorie <strong>und</strong> Denkfigur <strong>des</strong> alten Bil<strong>des</strong> säkularisieren, indem man<br />

die Stelle <strong>des</strong> Handelnden umbesetzt. Erhalten bleibt, daß Naturphänomene nicht in der<br />

Perspektive <strong>und</strong> Sprache moderner Naturwissenschaften, sondern vor allem als Zeichen<br />

(zumal als <strong>Spuren</strong>) betrachtet werden, aber nicht mehr als <strong>Spuren</strong> der Natur, durch die<br />

Gott zu uns spricht, nicht mehr als Spur <strong>des</strong> Handelns Gottes (oder <strong>des</strong> göttlichen Ganzen<br />

der Natur), sondern als Spur menschlichen Handelns. Die Modernisierung besteht<br />

darin, daß zwischen (wirklicher) Naturwissenschaft <strong>und</strong> einer Semiotik der Natur unterschieden<br />

wird; paradox <strong>und</strong> vieldeutig-mißverständlich gesprochen, zwischen einer<br />

wirklichen <strong>und</strong> einer »verstehenden« oder »sozialen Naturwissenschaft«, die – genau<br />

besehen – keine Naturwissenschaft im modernen Sinne ist. Das ist eine Differenzierung,<br />

die es für den alten Naturwissenschaftler nicht gab.<br />

Kurz, wie der alte Naturforscher betrachten wir beim <strong>Spuren</strong>lesen das Inventar der<br />

physisch-materiellen Welt nicht oder doch nicht nur <strong>und</strong> nicht einmal vorrangig als naturwissenschaftliche<br />

Gegenstände, die der physisch-materiellen Welt angehören, sondern<br />

als Artefakte, d.h. als Folgen von Handlungen. In diesem Fall dechiffriert man<br />

aber nicht mehr, wie in der alten Hermetik, eine »Hinterwelt« hinter der physischmateriellen<br />

Welt, sondern man liest (um ein altes Bild aufzugreifen) in einem »Buch der<br />

Natur«, das von Menschen geschrieben worden ist. Womit das »<strong>Spuren</strong>lesen« auch in<br />

einen geistes- <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Rahmen gestellt ist.<br />

2.1.2 Ein moderner Detektiv liest die <strong>Spuren</strong> von Menschen<br />

Abb. 2 <strong>und</strong> 3 sind zwei Illustrationen aus einer Neuausgabe eines frühen Polizei- <strong>und</strong><br />

Detekvivromans von 1869 (Émile Gaboriau, Monsieur Lecoq. Éditions Garnier: Classi-<br />

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