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Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium

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usw. usf. Wir sehen noch einmal, wie stark <strong>und</strong> unmittelbar diese <strong>Spuren</strong>wahrnehmung<br />

<strong>und</strong> Zwangsarbeiterforschung mit einer persönlichen Motivationsbasis verknüpft war.<br />

Ein Familiendiskurs setzte sich nahtlos in einen historischen hinein fort, eine <strong>Spuren</strong>sicherung<br />

entpuppt sich als die Rehabilitation eines Lieblingsonkels, <strong>und</strong> auch dem <strong>Spuren</strong>leser<br />

selber geht das auf: Die im Interview angestoßene Reflexion war auch für ihn<br />

eine Produktion von Bewußtheit. Er sieht, daß er einer Idiosynkrasie gefolgt ist; er sieht<br />

nun diese Idiosynkrasie mit ihren fruchtbaren <strong>und</strong> ihren bedenklichen Seiten <strong>und</strong> hat die<br />

Chance zu bemerken, daß auch »das Unbewußte forscht« (<strong>und</strong>, wie man sieht, zuweilen<br />

mit beachtlichen Resultaten).<br />

Ebenso interessant wie die biographische Anknüpfung <strong>und</strong> die Doppelbödigkeit seines<br />

Unternehmens waren dabei die Versuche <strong>und</strong> Strategien, dieses »Private« unsichtbar<br />

zu machen. Das Ganze ist eine schöne Illustration für das Bestreben auch <strong>des</strong> Wissenschaftlers,<br />

aus dem, was er tut, sich selbst herauszuhalten, sogar gegen allen Augenschein,<br />

<strong>und</strong> zwar nicht nur vor andern, sondern sogar vor sich selber. Tatsächlich bewältigte<br />

der <strong>Spuren</strong>sucher Vergangenheit, aber vor allem seine eigene. Eine abstrakte<br />

Aufklärung über diese Subjektanteile am Forschen <strong>und</strong> <strong>Spuren</strong>lesen ist fast machtlos;<br />

die Aufklärung <strong>des</strong> Wissenschaftlers kann wohl nur im Blick auf Selbsterlebtes oder<br />

Selbstmiterlebtes erfolgreich sein.<br />

Was war nun eigentlich die »Spur« <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesers? Nicht ein materieller Gegenstand<br />

(die »Mauer«); ein Text, ein Gesprächsfetzen war es, von denen alles ausging.<br />

Wenn man alles zusammennimmt (einschließlich der Anamnesen <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesers <strong>und</strong><br />

meiner Nacherk<strong>und</strong>ungen beim Kleingärtner), kann man wie folgt formulieren: Die<br />

Spur lag nicht im Gelände, sondern in einem Bericht über das Gelände; das Substrat der<br />

Spur war ein Wort. Dabei verstand der Student »Russenbaracken« gegen die Intention<br />

<strong>des</strong> Sprechers als »Russenbaracken«; der Zuhörer konzentrierte sein Interesse auf einen<br />

Wortteil, der für den Sprecher (d.h. den Kleingärtner) kaum einen eigenständigen semantischen<br />

Wert gehabt hatte. »Russenbaracke« war für den Kleingärtner eine beiläufig<br />

aufgeschnappte Chiffre für lästige Mauer- <strong>und</strong> F<strong>und</strong>amentreste im Boden seines Gartens,<br />

aber keine Chiffre für Zwangsarbeit in Osnabrück während <strong>des</strong> 2. Weltkriegs. Der<br />

Hörer verschob beim Zuhören die intendierte Semantik, setzte eine latente Bedeutung in<br />

Wert. Daher auch die nachvollziehbare Irritation <strong>des</strong> Kleingärtners über das plötzliche<br />

Interesse an den Russenbaracken als Zwangsarbeiterlager statt an den Russenbaracken<br />

als Begärtnerungserschwernis. Der Kleingärtner bemühte sich während <strong>des</strong> Gesprächs<br />

denn auch, das nichtintendierte <strong>und</strong> wohl auch diffus-unangenehme Thema so rasch wie<br />

möglich wieder loszuwerden, z.B., indem er sich beeilte »die Sache mit den Russen« als<br />

eine höchst zweifelhafte Geschichte darzustellen <strong>und</strong> alle möglichen Augenzeugen als<br />

längst verstorben zu deklarieren.<br />

Der Student hat also ein intentionales Zeichen gegen die Intention <strong>des</strong> Sprechers gelesen,<br />

das Zeichen umkodiert <strong>und</strong> so aus dem manifesten Text einen Sub-Text <strong>und</strong> Gegen-Text<br />

herausgeholt; eben <strong>des</strong>halb kann man sagen, daß es sich um ein <strong>Spuren</strong>lesen<br />

im eigentlichen Sinne gehandelt hat, wenn auch nicht um ein <strong>Spuren</strong>lesen im Gelände,<br />

sondern um ein <strong>Spuren</strong>lesen in der Sprache. Die spärlichen materiellen <strong>Spuren</strong> im <strong>und</strong><br />

überm Boden unterstrichen dann zwar das Wort »Russenbaracke«, aber diese Beglaubigung<br />

war für den Studenten eigentlich nicht nötig (sie war allerdings willkommen, weil<br />

er glaubte, <strong>Spuren</strong>lesen setze materielle <strong>Spuren</strong> voraus). Die Mauerreste interessierten<br />

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