Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium
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Ein paar St<strong>und</strong>en später, inmitten von Reportern, Fotografen <strong>und</strong> Polizisten, erörterten<br />
Kommissar Treviranus <strong>und</strong> Lönnrot im selben Zimmer in aller Ruhe den<br />
Fall.<br />
»Da braucht man nicht mal bis drei zählen zu können«, sagte Treviranus <strong>und</strong><br />
fuchtelte mit einer gewichtigen Zigarre. »Wir wissen alle, daß der Tetrarch von<br />
Galiläa die wertvollsten Saphire der Welt besitzt. Jemand wird wohl, als er sie<br />
stehlen wollte, aus Versehen hier eingedrungen sein. Yarmolinsky steht auf, <strong>und</strong><br />
der Dieb muß ihn umbringen. Was halten Sie davon?«<br />
»Möglich, aber nicht interessant«, antwortet Lönnrot. »Sie werden mir entgegnen,<br />
daß die Wirklichkeit nicht die geringste Verpflichtung hat, interessant zu<br />
sein. Ich werde dem entgegenhalten, daß zwar die Wirklichkeit sich dieser Verpflichtung<br />
entziehen kann, Hypothesen aber nicht. Bei der von Ihnen improvisierten<br />
ist zuviel Zufall im Spiel. Ich habe hier einen toten Rabbiner, ich würde<br />
eine rein rabbinische Erklärung vorziehen, nicht die imaginären Mißgeschicke<br />
eines imaginären Diebes.«<br />
Übelgelaunt antwortete Treviranus: »Rabbinische Erklärungen interessieren<br />
mich nicht; mich interessiert die Festnahme <strong>des</strong> Mannes, der diesen Unbekannten<br />
erstochen hat.« (ebd., S. 188)<br />
Die Figuren-Konstellation ist bekannt <strong>und</strong> klassisch; ich habe sie schon in den Eingangskapiteln<br />
zum »<strong>Spuren</strong>lesen« skizziert: Einerseits der »positivistische« Professional<br />
<strong>und</strong> Routinier, der seine Pappenheimer <strong>und</strong> ihre üblichen Geschichten kennt; andererseits<br />
der ideale Detektiv, diesen Ausgräber ungeheuerer <strong>und</strong> ungeheuerlicher Vorgeschichten<br />
<strong>und</strong> geniale Konstrukteur neuer Ko<strong>des</strong>, der mit entroutinisierten Blick etwas<br />
Hochinteressantes <strong>und</strong> Unglaubliches auch da sieht, wo andere ganz anderes, meist<br />
ganz Triviales, oder auch gar nichts sehen, der also z.B. (um auf ein bekanntes Kippbild<br />
anzuspielen) da, wo andere gewohntermaßen Enten sehen, Kaninchen wahrnimmt <strong>und</strong><br />
der (um auf ein bekanntes Suchbild anzuspielen) da, wo der Kommissar nur einen gewöhnlichen<br />
Baum sieht, die Hexe im Baum erblickt. 75<br />
Den Polizisten interessiert der externe Zweck seiner Geschichte (»rabbinische Geschichten<br />
interessieren mich nicht, mich interessiert die Festnahme <strong>des</strong> Mannes, der<br />
diesen Unbekannten erstochen hat«); es geht ihm um die Hetero-, d.h. hier: die Wirklichkeitsreferenz<br />
seiner Geschichtskonstruktion. Lönnrot hingegen ist sichtlich viel<br />
stärker als Treviranus an der internen Struktur interessiert: an ihrer Autoreferenz. Eben<br />
dies steckt unverkennbar in seiner Konstruktionsmaxime: Den Mord eines Rabbiners<br />
rabbinisch erklären.<br />
»Interessantheit« ist ein ästhetisches <strong>und</strong> ein epistemisches Kriterium. Es ist in der<br />
Moderne auch ein unmittelbar ästhetischer Wertmaßstab geworden, der (mehr noch als<br />
»Schönheit«) an moderne Kunstwerke angelegt wird. »Interessantheit« ist aber auch ein<br />
Maßstab im Forschungsprozeß <strong>und</strong> für wissenschaftliche Werke. Das Kriterium »Inter-<br />
75 Daß im allzu routinisierten Blick Sichtbares unsichtbar wird, ist ein altes <strong>des</strong> Kriminalromans. Die berühmteste<br />
Geschichte mit diesem Motiv ist wohl Chestertons »Der unsichtbare Mann«. Der Mörder hat das<br />
beobachtete Haus betreten – man hat ihn gesehen, aber man hat ihn zugleich nicht gesehen, denn es war<br />
der Briefträger, der allzu normalerweise zu einer bestimmten Zeit vorbeikommt.<br />
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