Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium
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ten, den Historiker, sondern mehr für den Chemiker. Chemiker aber sind nicht mehr auf<br />
ein Verstehen aus. <strong>Spuren</strong>lesen <strong>und</strong> naturwissenschaftliches Analysieren sind etwas<br />
völlig Verschiedenes.<br />
Was der Historiker die radikale Abwesenheit <strong>des</strong> Signifikats (die radikale Absenz<br />
der Bedeutung <strong>des</strong> historischen Zeichens) nennt, das wird von Derrida also noch einmal<br />
radikalisiert <strong>und</strong> mit der Aschen-Metapher festgehalten. Es ist ein Irrtum zu glauben,<br />
daß <strong>Spuren</strong> Bedeutungen »haben«. Auch <strong>Spuren</strong> sind signifiants insignifiants; ihre Bedeutungen<br />
<strong>und</strong> Ursachen müssen ihnen verliehen werden. Was folgt daraus für den Historiker<br />
<strong>und</strong> <strong>Spuren</strong>leser?<br />
Hier zeigt die théorie de la trace <strong>des</strong> Historikers (wieder) ihren autoreferentiellen<br />
Charakter. Wenn der <strong>Spuren</strong>leser zunächst nur seine eigene Semantik, d.h. sich <strong>und</strong><br />
seinen gelebten Kontext hat, alle anderen Bedeutungen <strong>und</strong> Kontexte aber abwesend<br />
sind, dann kann er nur da, bei sich selber ansetzen, die Spur in diesen persönlichen<br />
Kontext einbinden – <strong>und</strong> auf solcher Gr<strong>und</strong>lage dann hypothetische <strong>und</strong> provisorische<br />
Skizzen der abwesenden Kontexte entwerfen (»konstruieren«). Die gesuchte nichtmaterielle<br />
Bedeutung der materiellen Spur, das ist »le sens que le présent donne au passé«<br />
<strong>und</strong> ist »rétrojection d’un sens actuel« (der Sinn, den die Gegenwart der Vergangenheit<br />
gibt; Retrojektion eines gegenwärtigen Sinns).<br />
Wie d’Haenens ausführt, heißt das z.B.: Erk<strong>und</strong>en, was die Spur im eigenen Lebenskontext<br />
»immer schon« bedeutet; alles explizieren, was »man« über die Spur »immer<br />
schon« weiß. (»Man« bedeutet: man selber <strong>und</strong> diejenigen, die man kommunikativ<br />
erreichen kann.) Dann geht es um die in der Hermeneutik berühmten »Vorverständnisse«<br />
<strong>und</strong> Sinn-Antizipationen. D’Haenens spricht von einer (Vor-)Untersuchung »de<br />
nature phénoménologique«, <strong>und</strong> das müßte wohl vor allem eine Phänomenlogie oder<br />
Hermeneutik der Alltagswelt sein. In diesem Zusammenhang gehören auch die<br />
Erk<strong>und</strong>ungen, die ein guter Vegetationsk<strong>und</strong>ler anstellt, um die alltagsweltlichen<br />
Bedeutungen <strong>und</strong> Funktionen der Pflanzen <strong>und</strong> Pflanzengesellschaften kennen zu<br />
lernen. 44<br />
»L’opérateur détient déjà, en quelque sorte, inconsciemment ou implicitement ... le<br />
44 Wie man diesen Sinn ausschöpft, der »immer schon« in der Lebenswelt <strong>des</strong> Historikers <strong>und</strong> <strong>Spuren</strong>lesers<br />
liegt (»Lebenswelt« jetzt im nichtphilosophischen, exoterischen Sinn <strong>des</strong> Wortes), dafür ist z.B. der<br />
kunstpädagogische Ansatz »Alltagsästhetik« eine gute Anregung (vgl. z.B. Kämpf-Jansen 1985). Diese<br />
»Alltagsästhetik« hat nichts damit zu tun, »das Schöne« im Alltag zu suchen oder auch nur damit, im Alltag,<br />
z.B. in der Gegenstandswelt, in der man lebt, das »Ästhetische im allgemeinen« aufzusuchen. Es geht<br />
vielmehr darum, die vielen Sinndimensionen von Alltagsgegenständen, Alltagssituationen <strong>und</strong> Alltagsereignissen<br />
aufzuspüren: Sie also mit gleitendem, gleich- <strong>und</strong> freischwebenden Interesse nicht nur nach ihren<br />
funktionalen <strong>und</strong> ökonomischen Bedeutungen <strong>und</strong> nach ihren wissenschaftlichen Ansichten zu betrachten<br />
– zwar so auch, aber außerdem auch noch ganz anders: z.B. nach der Rolle dieser Gegenstände in<br />
der eigenen Biographie <strong>und</strong> in der Biographie Nahestehender, nach ihrer Rolle in Kunst <strong>und</strong> Kitsch, in<br />
Glauben <strong>und</strong> Aberglauben, nach dem, was sie einem normalerwachsenen, kindlichen, weiblichen, männlichen,<br />
trivialgenüßlichen, künstlerischen, literarischen, fernseherfahrenen, warenästhetischen..., aber auch<br />
einem abergläubischen, animistischen, ich-bezogenen, autobiographischen... Blick bedeuten können. Das<br />
ist eine Methode, den Gegenstand in möglichst viele Kontexte der eigenen Kultur zu stellen, in die üblichen<br />
<strong>und</strong> weniger üblichen Semantiken <strong>und</strong> Diskurse der eigenen Gesellschaft.<br />
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