Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des - repOSitorium
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Der erstgenannte (schlaue, neugierige, forschende) lange Blick erzeugt eine Spur,<br />
z.B. ein historisches Zeichen, der zweitgenannte lange Blick erzeugt ein ästhetisches<br />
Zeichen. Beide Semiosen haben aber viel mehr miteinander zu tun, als dieses Schema<br />
(»kognitiv« gegen »ästhetisch«) auf Anhieb erkennen läßt.<br />
Die Welt <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesens besteht nicht, wie die Welt <strong>des</strong> Alltagsweltlers, aus Gegenständen,<br />
sondern aus Zeichen, die er als <strong>Spuren</strong> definiert. Der <strong>Spuren</strong>leser konstituiert<br />
eine Welt aus <strong>Spuren</strong>, <strong>und</strong> eben damit <strong>und</strong> nur dadurch eine Welt aus Geschichten.<br />
Bei D’Haenens heißt das: »Pas de trace, pas d’histoire«; besser wäre wohl (um die unabsehbare<br />
Pluralität zu betonen): »Pas de traces, pas d’histoires«, <strong>und</strong> man müßte noch<br />
hinzufügen: »Pas d’histoires, pas d’histoire«. Weil der gegenwärtige <strong>Spuren</strong>leser es ist,<br />
der diese <strong>Spuren</strong>-<strong>und</strong>-Geschichten-Welt, d.h. diese Welt aus präsenten <strong>Spuren</strong> <strong>und</strong> verflossenen<br />
Geschichten konstituiert, kann man mit D’Haenens (1984) sagen: »Le présent<br />
explique le passé« (die Gegenwart erklärt die Vergangenheit). Auch die Geschichte eines<br />
Mäusegerste-Rasens erklärt sich so aus der Gegenwart eines, dieses <strong>Spuren</strong>lesers.<br />
2.5 Ikonographie <strong>und</strong> Ikonologie der Vegetation?<br />
Wie im Kapitel »<strong>Zur</strong> Semiotik <strong>des</strong> <strong>Spuren</strong>lesens« erläutert wurde, geht es beim <strong>Spuren</strong>lesen<br />
im Wesentlichen um Zweitkodierungen <strong>und</strong> Mehrfachkodierungen über den<br />
manifesten Sinn hinaus. Das erinnert an bekannte, aber auch sehr unterschiedliche Modelle<br />
der »mehrfachen« oder »mehrschichtigen« Text- <strong>und</strong> Bildinterpretation (vgl. Panofsky<br />
1978, 1980, Bätschmann 1984), z.B. an das alte Modell <strong>des</strong> mehrfachen<br />
Schriftsinns <strong>und</strong> dann auch <strong>des</strong> mehrfachen Bildsinns: sensus literalis – sensus spiritualis29<br />
; wörtlicher – allegorischer – eschatologischer – tropologischer Sinn30 . Es erinnert<br />
aber auch an die »Sinnschichten« in der kunsthistorischen Ikonographie: vorikonographische<br />
Beschreibung – ikonographische Analyse – ikonologische Interpretation;<br />
z.B.: ein Bild als Darstellung einer erregten Tischgesellschaft (vorikonographische Beschreibung)<br />
– als Darstellung <strong>des</strong> Letzten Abendmals (ikonographische Analyse) – als<br />
Dokument einer Künstlerpersönlichkeit, einer Weltanschauung oder einer Epoche (ikonologische<br />
Interpretation).<br />
Das berühmte dreistufige Panofsky-Modell der kunsthistorischen Interpretation ist<br />
tatsächlich schon einmal auf die Vegetationsk<strong>und</strong>e übertragen worden, nicht zufällig<br />
gerade von einem Vegetationsk<strong>und</strong>ler aus der »Kasseler Schule«, der zugleich Landschafts-<br />
<strong>und</strong> Freiraumplaner ist <strong>und</strong> der die Vegetation – nach unserer Terminologie –<br />
vor allem auch sozialökologisch betrachten wollte (Lührs 1993, 1994).<br />
Die Art, wie Lührs das Vorgehen <strong>des</strong> Vegetationsk<strong>und</strong>lers beschreibt, ist zwar sehr<br />
allgemein, aber überzeugend. Nicht überzeugend dagegen ist die Art der Parallelisie-<br />
doxe Rede vom »langen«, »verweilenden«, ja »ewigen Augenblick« mag unter anderem auf solche Erfahrungen<br />
verweisen.<br />
29 D.h. wörtlicher Sinn – geistlicher/ewiger/eigentlicher/tieferer Sinn.<br />
30 D.h. in etwa: wörtlicher Sinn – sinnbildlicher Sinn – menschheitlicher bzw. heilsgeschichtlicher Sinn –<br />
moralischer Sinn. Ein der Einfachheit halber konstruiertes Beispiel: Eine Frau mit verb<strong>und</strong>enen Augen<br />
(»wörtlicher Sinn«) ist u.U. eine Allegorie der Gerechtigkeit, steht eschatologisch für die verblendete<br />
Menschheit <strong>und</strong> tropologisch für die verblendete Seele <strong>des</strong> Betrachters.<br />
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