24.06.2017 Aufrufe

Hardt_Michael_Negri_Antonio_Empire_Die_neue_Weltordnung_German

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

180 PASSAGEN DER SOUVERÄNITAT<br />

sollte auch als materielles Regime juristischer Deutung und Praxis verstanden<br />

werden, die nicht nur von Rechtsgelehrten und Richtern ausgeübt wird,<br />

sondern auch von Subjekten der gesamten Gesellschaft. <strong>Die</strong>se materielle,<br />

gesellschaftliche Verfassung hat sich denn auch seit Begründung der Republik<br />

radikal verändert. <strong>Die</strong> amerikanische Verfassungsgeschichte lässt sich<br />

dabei in vier unterschiedliche Phasen oder Regime unterteilen. 24 Eine erste<br />

Phase reicht von der Unabhängigkeitserklärung bis zum Bürgerkrieg und<br />

dem Wiederaufbau; eine zweite, extrem widersprüchliche Phase bildet das<br />

Zeitalter des »Progressismus« (Progressive Era) von Theodore Roosevelts<br />

imperialistischer Doktrin bis zu Woodrow Wilsons internationalem Reformismus,<br />

das bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts reicht; eine<br />

dritte Phase umfasst den New Deal und den Zweiten Weltkrieg bis zur<br />

Hoch­Zeit des Kalten Kriegs; und schließlich beginnt mit den sozialen Bewegungen<br />

der 1960er Jahre eine vierte Phase, die bis zur Auflösung der<br />

Sowjetunion und des Ostblocks reicht. Jede dieser Phasen in der amerikanischen<br />

Verfassungsgeschichte markiert eine Stufe in Richtung der Verwirklichung<br />

imperialer Souveränität.<br />

In der ersten Phase der Verfassung, zwischen den Präsidentschaften<br />

Thomas Jeffersons (1801­1809) und Andrew Jacksons (1829­1837), wurde<br />

der offene Grenz­ und Siedlungsraum (die so genannte frontier) zum begrifflichen<br />

Terrain republikanischer Demokratie: <strong>Die</strong>se Offenheit war erstes<br />

strenges Definitionsmerkmal der Verfassung. <strong>Die</strong> Freiheitsbekundungen<br />

waren sinnvoll in einem Raum, in dem die staatliche Verfassung als offener<br />

Prozess, als kollektive Selbsterschaffung betrachtet wurde. 25 Am wichtigsten<br />

dabei war, dass diesem amerikanischen Terrain jegliche Form der Zentralisierung<br />

und Hierarchie fehlte, wie sie für Europa typisch waren.<br />

Tocqueville und Marx betrachten dies zwar von völlig entgegengesetzten<br />

Blickwinkeln aus, stimmen aber in diesem einen Punkt überein: <strong>Die</strong> bürgerliche<br />

Gesellschaft der USA entwickelt sich nicht innerhalb der engen<br />

Fesseln feudaler und adliger Macht, sondern gründet auf völlig anderen<br />

Voraussetzungen. Ein alter Traum scheint sich neu verwirklichen zu lassen.<br />

Ein unbegrenztes Territorium ist offen für das Streben (cupiditas) der<br />

Menschheit, und diese Menschheit kann deshalb die Krise im Verhältnis<br />

zwischen Tugend (virtus) und Schicksal (fortunä) vermeiden, an der die<br />

humanistische und demokratische Revolution in Europa gescheitert war.<br />

Betrachtet man die Vereinigten Staaten unter diesem Gesichtspunkt, so sind<br />

die Hindernisse, die der menschlichen Entwicklung im Wege stehen, natürlicher<br />

und nicht geschichtlicher Art ­ und in der Natur gibt es keine un­

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!