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Hardt_Michael_Negri_Antonio_Empire_Die_neue_Weltordnung_German

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GENERATION UND KORRUPTION 385<br />

nicht einmal lindern (vgl. Lukäcs 1954). Und der mächtige Schatten einer<br />

ästhetisierten Dialektik schleicht sich sogar in Heideggers Vorstellung von<br />

einer Funktion des Hirten über dem erschütterten und zerbrochenen Sein.<br />

Dass sich diese Lage dann doch noch geklärt hat, haben wir vor allem<br />

einer Reihe französischer Philosophen zu verdanken, die Nietzsche mehrere<br />

Jahrzehnte später, nämlich in den 1960er Jahren, neu gelesen haben (in erster<br />

Linie sind hier Gilles Deleuze, Michel Foucault und Jacques Derrida zu<br />

nennen). Deren Neuinterpretation hatte eine Neuausrichtung des kritischen<br />

Standpunkts zur Folge; denn sie erkannten, dass die Dialektik hier nicht<br />

mehr funktionierte, und diese Erkenntnis wurde durch die <strong>neue</strong>n praktischen,<br />

politischen Erfahrungen bestätigt, in deren Mittelpunkt die Produktion<br />

von Subjektivität stand. Dabei wurde Subjektivität als Macht produziert,<br />

als Herausbildung einer Autonomie, die sich nicht auf irgendeine abstrakte<br />

oder transzendente Synthese reduzieren ließ (vgl. dazu Krahl 1971). Nicht<br />

die Dialektik, sondern Verweigerung, Widerstand, Gewalt und die positive<br />

Bekräftigung des Seins markierten nunmehr das Verhältnis zwischen dem<br />

Ort der Krise in der Wirklichkeit und der angemessenen Antwort darauf.<br />

Was in den 1920er Jahren, inmitten der Krise, als Transzendenz vs. Geschichte,<br />

Erlösung vs. Korruption und Messianismus vs. Nihilismus auf den<br />

Plan getreten war, wurde nun als ontologisch begründete Position außerhalb,<br />

gegen und damit jenseits jedes nur möglichen Restes von Dialektik<br />

bestimmt. <strong>Die</strong>ser <strong>neue</strong> Materialismus negierte jegliches transzendente Element<br />

und führte zu einer radikalen geistigen Neuorientierung.<br />

Um zu verstehen, wie tiefgreifend dieser Übergang war, sollte man einen<br />

genaueren Bück auf das Denken Ludwig Wittgensteins werfen, der sich<br />

dieses Übergangs sehr wohl bewusst war und ihn antizipierte. Wittgensteins<br />

frühe Schriften hauchten den bestimmenden Themen europäischen Denkens<br />

im frühen 20. Jahrhundert <strong>neue</strong>s Leben ein: der Situation, dass man in einer<br />

Sinnwüste lebte und nach Sinn suchte, der Koexistenz von einem totalitären<br />

Mystizismus und der ontologischen Tendenz in Richtung einer Produktion<br />

von Subjektivität. <strong>Die</strong> zeitgenössische Geschichte und deren Drama, die<br />

jeglicher Dialektik entkleidet worden war, verlor bei Wittgenstein dann<br />

auch noch jegliche Kontingenz. Geschichte und Erfahrung wurden zur<br />

Bühne einer materialistischen und tautologischen Neubegründung des Subjekts,<br />

und zwar in einem verzweifelten Versuch, in der Krise irgendeine<br />

Sinnkohärenz auszumachen. Inmitten des Ersten Weltkriegs (1916) hielt<br />

Wittgenstein in seinem Tagebuch fest: »Wie sich alles verhält, ist Gott. Gott<br />

ist, wie sich alles verhält. Nur aus dem Bewusstsein der Einzigkeit meines

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